Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
kann man wohl sagen«, erwiderte Montgomery großspurig. »Außerdem arbeite ich als Dr. Diaz’ Assistent in der Arztpraxis nebenan. Es ist ein ganz schöner Balanceakt, immer zwischen Leichenhalle und Praxis hin und her pendeln zu müssen, aber wenigstens liegen beide Arbeitsplätze direkt nebeneinander. Außerdem haben wir hier nicht viele Todesfälle, die eine Autopsie erforderlich machen. Aber das scheint sich ja zu ändern. Plötzlich gibt’s jede Menge Action. Wrightsburg wird endlich erwachsen!« Montgomery lächelte bei diesem Gedanken.
Michelle, Williams und King tauschten angewiderte Blicke, als sie ihm folgten.
Sylvias Büro war genauso, wie Michelle es sich vorgestellt hatte. Sehr ordentlich und geschmackvoll ausgestattet, jedenfalls im Vergleich zu anderen rechtsmedizinischen Einrichtungen. Sylvia hatte hier und dort warme, feminine Akzente gesetzt, um die kalte, antiseptische Atmosphäre zurückzudrängen, die das gesamte Gebäude beherrschte. An der Garderobe neben der Tür hingen eine Damenjacke, eine übergroße Tasche und ein Hut. Auf dem Boden stand ein Paar elegante Schuhe.
»Eine Frau mit Geschmack.«
Michelle blickte sich um und sah, dass Kyle Montgomery sie anlächelte. »In ihrer Arztpraxis sieht es genauso aus. Frau Doktor mag es nicht, wenn Schmutz in den Obduktionsraum gelangt, obwohl es da nicht gerade steril ist. Eher das Gegenteil. Wir haben hier einen Umkleideraum, wo wir Kittel und Mundschutz anlegen können, aber manchmal glaube ich, sie würde sich lieber hier umziehen, aus Angst, irgendein Beweisstück zu kontaminieren. Ich finde, sie könnte ein bisschen mehr Realitätssinn entwickeln.«
»Und ich finde es großartig, dass es noch Menschen gibt, die mit Leib und Seele an ihrem Beruf hängen«, sagte King steif.
Während Montgomery zurückblieb, um auf seine Chefin zu warten, ließ Michelle den Blick durchs Zimmer schweifen. Auf dem Regal hinter Sylvias Schreibtisch standen mehrere Fotos von einem Mann, der entweder allein oder zusammen mit Sylvia aufgenommen worden war. Michelle nahm eins der Porträts und zeigte es King mit fragendem Blick.
»Das ist George Diaz, ihr verstorbener Ehemann«, erklärte er.
»Sie hat immer noch Bilder von ihm an ihrem Arbeitsplatz?«
»Ich nehme an, sie hat ihn wirklich geliebt.«
»Wie kommt es, dass ihr euch nicht mehr trefft? Gab es Probleme?«, fragte Michelle.
»Du bist meine Geschäftspartnerin, nicht meine Psychiaterin«, gab er zurück.
Kaum hatte Michelle das Foto zurückgestellt, trat Sylvia durch die Tür.
»Vielen Dank, Kyle«, sagte sie knapp.
»Schon gut.« Montgomery entfernte sich zusammen mit seinem überheblichen Lächeln.
»Kann es sein, dass dein Assistent sich ein bisschen seltsam benimmt, oder liegt es an uns?«, fragte King.
Sylvia zog ihren Arztkittel aus und hängte ihn an einen Haken neben der Tür. Michelle nahm sich einen Moment Zeit, um die Frau eingehender zu betrachten. Sie war mittelgroß und mit einer schwarzen Hose und einem weißen Leinenhemd bekleidet. Sie trug keinen Schmuck, wahrscheinlich wegen ihrer Arbeit. Es wäre wohl nicht sehr günstig, wenn ein Ohrring im aufgeschlitzten Magen einer Leiche landete. Sylvias Haut war glatt, die Wangen mit ein paar Sommersprossen gesprenkelt. Ihr rotes Haar war zusammengebunden und legte die perfekt geformten Ohren und einen langen, schlanken Hals frei. Ihr Blick wirkte gedankenverloren, als sie nun hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm.
»Kyle ist gerade dreißig geworden und hat sich seine berufliche Laufbahn ein bisschen anders vorgestellt«, sagte sie.
»Ich schätze, mit dem Spruch ›Willst du mal eine richtig tolle Leiche sehen?‹ dürfte es nicht einfach sein, in einer Bar Frauen aufzureißen«, sagte Michelle.
»Ich glaube, Kyle träumt eher davon, in einer berühmten Rockband zu spielen«, sagte Sylvia.
»So wie zwanzig Millionen andere Jungs«, sagte King. »Er wird darüber hinwegkommen. Ich hab’s mit siebzehn auch geschafft.«
Sylvia blätterte in Papieren auf ihrem Schreibtisch, unterschrieb sie, schloss die Akte, streckte sich und gähnte. »Tut mir Leid. Drei Autopsien nacheinander, das schlaucht. Außerdem grassiert derzeit wieder die Frühlingsgrippe, um die ich mich nebenan in der Praxis kümmern muss.« Sie schüttelte erschöpft den Kopf. »Es ist schon verrückt. Vor ein paar Minuten erst habe ich einer fünfzigjährigen Frau Halstropfen verschrieben, und gleich werde ich jemanden aufschneiden, um festzustellen, wie die Person
Weitere Kostenlose Bücher