Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
ermordet wurde. Manchmal habe ich das Leichenschauhaus monatelang nicht betreten. In letzter Zeit ist das anders.«
Sie wandte sich an Todd Williams, der immer blasser zu werden schien. »Ich hoffe, Sie haben sich von der ersten Autopsie erholt.«
»Mein Kopf schon, aber mein Magen noch nicht.«
»Ich hatte damit gerechnet, Sie am Tatort zu sehen, wo das junge Pärchen gefunden wurde. Es ist hilfreich, wenn der leitende Ermittler dabei ist.« Ihr tadelnder Tonfall machte deutlich, was sie von seinem Verhalten hielt.
Todd Williams warf ihr einen leidenden Blick zu. »Ich wollte vorbeikommen, wurde dann aber zu anderen Pflichten gerufen.«
»Natürlich.« Sylvia blickte zu King und Michelle auf. »Ich hoffe, wenigstens ihr habt einen guten Magen.«
Michelle und King sahen sich an. »Gut genug«, antwortete King.
Sylvia wandte sich wieder an Todd Williams. »Haben Sie irgendwelche Einwände, dass die beiden die Leichen sehen, Todd? Außerdem möchte ich, dass auch Sie dabei sind, oder einer von Ihren Leuten. Vor Gericht könnte es einen merkwürdigen Eindruck machen, wenn kein Vertreter der Polizei die Leichen während oder nach der Autopsie begutachtet hätte.«
Williams seufzte tief. »Gehen wir. Ich kann’s kaum erwarten.«
KAPITEL 10
Der Obduktionsraum machte einen ähnlichen Eindruck wie Sylvias Büro. Alles war sauber und ordentlich. Auf der einen Seite des Raumes standen zwei Arbeitsplätze mit eingebauten Schreibtischen; auf der anderen Seite befanden sich zwei blitzblanke Untersuchungstische mit Abflusslöchern, Wasserhähnen und Schläuchen, einem kleinen Seziertisch, Schalen und Instrumenten.
Im Umkleideraum hatten Michelle und die anderen Kittel, Handschuhe und Gesichtsmasken angelegt. Nun sahen sie aus wie Statisten in einem zweitklassigen Spielfilm über Bioterrorismus.
Als Sylvia vorausging, um mit Montgomery zu sprechen, wandte Michelle sich flüsternd an King. »Ich kann verstehen, warum ihr zwei eine Affäre hattet. Ihr habt beide das Ordnungsfimmel-Gen. Aber mach dir keine Sorgen, es wird gerade eine Therapie entwickelt.«
»Und mach du dir keine großen Hoffnungen«, flüsterte King durch den Mundschutz zurück. »Ich werde niemals auf die dunkle Seite wechseln.«
Sylvia kam zu ihnen zurück. »Ich werde euch zuerst die Unbekannte zeigen«, sagte sie.
Eine große Stahltür schwang auf, und Montgomery schob eine Bahre herein, auf der die Tote unter einem Laken lag. Ein Schwall eiskalter Luft wehte aus dem Kühlraum.
Montgomery ging. Bevor Sylvia das Laken zurückzog, warf sie Todd Williams einen etwas freundlicheren Blick zu. »Tun Sie einfach, was ich Ihnen beim ersten Mal gesagt habe, dann wird’s schon gehen. Das Schlimmste haben Sie bereits gesehen. Ich verspreche Ihnen, dass es keine weiteren Überraschungen gibt.«
Williams nickte, zog sich die Hose hoch und schien den Atem anzuhalten, während er betete, dass sich eine Naturkatastrophe ereignete, damit er einen Grund hatte, fluchtartig von hier zu verschwinden.
Sylvia zog das Laken zurück.
Der lange Schnitt, der von der Brust der Toten bis zum Schambein verlief, erweckte den Anschein, als wäre die Leiche mit einem Reißverschluss geöffnet worden. Die Organe waren entfernt, gewogen und analysiert worden; dann hatte man den Haufen aus Eingeweiden, Muskeln und Gewebe in einen Beutel gepackt und formlos in die Körperhöhle zurückgedrückt. Den Schnitt, mit dem der Schädel geöffnet worden war, konnten sie von ihrem Standort aus nicht ohne weiteres sehen, obwohl das Gesicht merkwürdig erschlafft wirkte, wie bei einer Puppe, deren Nähte geplatzt waren.
»Der Y-Schnitt ist jedes Mal aufs Neue ein erhebender Anblick«, bemerkte King trocken.
»Ich bin beeindruckt, Sean«, sagte Sylvia.
Todd Williams starrte King an, als hätte er ihn am liebsten erdrosselt, hätte er nicht alle Energie dafür aufbringen müssen, gegen die Ohnmacht anzukämpfen.
Der Leichengeruch war in dem kleinen Raum sehr intensiv. Michelle wollte sich trotz ihrer Maske eine Hand auf Mund und Nase legen, doch Sylvia hielt sie rasch davon ab.
»Nein. Hier wimmelt es von Krankheitskeimen, also sollten Sie Ihr Gesicht auf keinen Fall berühren. Und versuchen Sie nicht, den Geruch zu unterdrücken. Damit machen Sie es nur schlimmer. In zwei Minuten werden Ihre Riechzellen den Gestank nicht mehr wahrnehmen. Atmen Sie einfach normal weiter.« Sie warf einen Blick zu Todd Williams, der vorbildlich tief und schnell ein- und ausatmete, während er sich eine
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