Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
Hand auf den Bauch hielt, als wollte er versuchen, dessen Inhalt festzuhalten. »Am Tatort sind Ihre Deputys ständig weggerannt, um frische Luft zu schnappen, mit dem einzigen Erfolg, dass ihr Geruchssinn sich immer wieder normalisieren konnte.«
»Ich weiß«, sagte Williams zwischen zwei keuchenden Atemzügen. »Sie haben sich sämtliche Uniformen voll gekotzt. Wir haben unser Wäschereibudget für einen ganzen Monat verbraten.« Der Polizeichef wurde vorübergehend grün im Gesicht, doch er hielt sich wacker.
Michelle bemerkte, dass auch sie schnell und unregelmäßig atmete. Doch wie Sylvia angekündigt hatte, wurde ihr Geruchssinn bereits schwächer. Sie warf einen neuerlichen Blick auf die Leiche.
»Ich sehe keine offensichtlichen Verletzungen. Wurde sie stranguliert?«
Sylvia schüttelte den Kopf. »Das habe ich zuerst überprüft. Ich habe mir den Hals im Laserlicht angesehen und nach Ligaturen gesucht, die im normalen Licht nicht zu erkennen sind. Ich dachte, es wäre zu Hämatomen in den Halsmuskeln gekommen, aber ich habe keine Anzeichen gefunden. Und das Zungenbein sowie der Schilddrüsen- und Luftröhrenknorpel waren nicht gebrochen, wie es bei Strangulationen häufig geschieht.« Sie betrachtete die unbekannte Tote. »Wir haben sie auf Vergewaltigung und andere sexuelle Übergriffe untersucht. Negativ. Wer immer sie getötet hat, hat ihr keine sexuelle Gewalt angetan. Bedingt durch den üblichen Ablauf einer Autopsie bin ich erst gegen Ende auf die Todesursache gestoßen. Bis dahin war mir dieser Fall ein Rätsel.« Sie warf Todd Williams einen strengen Blick zu. »Zu diesem Zeitpunkt waren Sie bereits gegangen, Todd.«
Williams sah sie Hilfe suchend an. »Verdammt, ich gebe mir schon alle Mühe, Doc!«
»Mach es nicht so spannend, Sylvia«, sagte King. »Wie ist sie gestorben? Und sag es bitte so, dass auch ein Normalsterblicher es versteht.«
Sylvia nahm einen langen Metallstab und hebelte den Mund der Unbekannten auf.
»Man hat ihr einen Revolver vom Kaliber zwoundzwanzig in den Mund gesteckt und abgedrückt. Der Schusswinkel beträgt etwa fünfundsiebzig Grad. Die Kugel blieb mitten im Gehirn stecken. Mir sind seltsame Rückstände auf ihren Zähnen aufgefallen. Sie stammten nicht von der Waffe, das hätte ich sofort erkannt. Der Mörder muss Zähne und Mundhöhle mit einer Reinigungsflüssigkeit ausgespült haben, um die Beweise zu beseitigen. Die Wunde im Gaumen wurde durch die heißen Gase versiegelt, die beim Abfeuern der Waffe austraten. Sie wurde praktisch kauterisiert. Auf der Röntgenaufnahme ist die Kugel zu sehen. Wir machen immer Röntgenbilder, bevor wir eine Leiche öffnen, aber diesmal kamen die Bilder erst später, weil wir Probleme mit der Entwicklung hatten. Deshalb hatte ich ohne Röntgenbefund mit der Autopsie angefangen und sofort den Wundkanal und die Kugel gefunden. Als die Röntgenbilder schließlich kamen, war die Kugel auf dem Film sofort zu erkennen.«
»Ist es nicht eine typische Selbstmordmethode, sich eine Waffe in den Mund zu stecken?«, fragte Michelle.
»Nicht für Frauen«, entgegnete Sylvia. »Eine klassische Mars-und-Venus-Geschichte, Testosteron kontra Östrogen. Männer bringen sich um, indem sie sich erschießen oder aufhängen. Frauen ziehen Gift oder eine Überdosis Medikamente vor, oder sie schneiden sich die Pulsadern auf oder stülpen sich eine Plastiktüte über den Kopf. Außerdem gab es keinerlei Schmauchspuren an ihren Händen.«
»Der Mörder muss gewusst haben«, sagte King nachdenklich, »dass die Todesursache irgendwann ermittelt wird, obwohl er versucht hat, sie zu verschleiern.«
»Es gibt noch einen interessanten Punkt«, sagte Sylvia. »Die Frau wurde nicht im Wald getötet, sondern in einem Gebäude. Ihre Leiche wurde später in den Wald gebracht. Wahrscheinlich in einem Auto. Und die Leiche war in Plastik gewickelt.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«, fragte King.
»Nun, die Leichenstarre ist ein einfacher chemischer Prozess, der nach dem Tod eintritt. Sie beginnt in den kleinen Muskeln an Kiefer und Hals und breitet sich dann zu den größeren Muskelgruppen und über den Rumpf und die Extremitäten aus. Üblicherweise ist dieser Prozess nach sechs bis zwölf Stunden abgeschlossen. Doch es gibt verschiedene Ausnahmen von dieser Regel. Der körperliche Zustand und Umweltbedingungen können den zeitlichen Ablauf verändern. Bei einer fettleibigen Person beispielsweise tritt die Leichenstarre manchmal gar nicht erst ein.
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