Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
Außerdem wird sie durch Kälte verzögert und durch Wärme beschleunigt. Die Erstarrung hält zwischen dreißig Stunden und drei Tagen an und verschwindet anschließend so, wie sie eingetreten ist.«
»Und was sagt uns das?«, fragte Michelle.
»Eine ganze Menge. Die Unbekannte war eine junge Frau, gut genährt, aber nicht übergewichtig. Die Leichenstarre hätte sich bei ihr innerhalb der normalen Parameter entwickelt. Die Außentemperatur in der Nacht, bevor sie gefunden wurde, war auf unter zehn Grad Celsius gesunken, was den Fortschritt der Leichenstarre ein wenig verzögert hätte. Bei der Unbekannten war die Starre jedoch voll entwickelt, und als ich sie am Fundort untersuchte, war die Leiche schon wieder erschlafft. Das bedeutet, dass sie zu diesem Zeitpunkt seit höchstens drei Tagen oder mindestens dreißig Stunden tot war. Da der Rigor mortis trotz des kühlen Wetters vollständig ausgebildet war, neige ich eher zu der Einschätzung, dass der Todeszeitpunkt drei Tage zurücklag.«
»Aber Sie haben gesagt, dass die Leichenstarre keine präzise Angabe ermöglicht. Vielleicht hat ein anderer Faktor den Verlauf beeinflusst«, warf Michelle ein.
»Was das betrifft, habe ich weitere Untersuchungen vorgenommen. Am Fundort im Wald habe ich festgestellt, dass die Leiche bereits verfärbt und der Körper vom Gas aufgebläht war, das von den Fäulnisbakterien erzeugt wird. Die Haut warf schon Blasen, und aus sämtlichen Körperöffnungen trat Flüssigkeit aus – ein Vorgang, der in der Regel erst drei Tage nach dem Tod eintritt.« Sie hielt kurz inne. »Und wenn sie auch nur dreißig Stunden im Wald gelegen hätte – ganz zu schweigen von drei Tagen –, hätte sich der Insektenbefall erheblich von dem unterschieden, was ich gesehen habe. Ich hätte einen starken Befall von Gold- und Schmeißfliegen erwartet. Fliegen legen ihre Eier fast unmittelbar nach dem Tod in eine Leiche. Nach zwei Tagen schlüpfen die Larven, und dann geht der Zyklus immer weiter. Bei der Untersuchung von Mund, Nase und Augen habe ich tatsächlich geschlüpfte Fliegenlarven gefunden, aber es stellte sich heraus, dass es Stubenfliegen waren. Die Larven der Freilandfliegen waren noch gar nicht geschlüpft. Außerdem hätte es auf der Leiche vor Totengräbern und anderen Aaskäfern wimmeln müssen, als wir sie gefunden haben. Darüber hinaus wären nach drei Tagen im Wald größere Teile der Extremitäten von Wildtieren gefressen worden. Aber es fehlten nur ein paar Finger.«
Sie drehte die Leiche auf die Seite und zeigte auf dunkelrote Stellen auf der Vorderseite, wo sich nach dem Eintritt des Todes das Blut gesammelt hatte. »Ich konnte meine Theorie, dass die Leiche bewegt wurde, auch noch auf andere Weise bestätigen. Die Lage der Leichenflecke verriet mir bereits alles, was ich wissen musste. Sie sehen fast genauso aus wie blaue Flecke. Doch hier können Sie außerdem erkennen, dass die Verfärbungen sich auf der Vorderseite des Rumpfs und an den Oberschenkeln und Schienbeinen befinden. Die weißen Streifen auf der unteren Rumpfhälfte und an den Beinen sind Stellen, an denen etwas Hartes gegen die Haut gedrückt hat, sodass dort ein Blutstau verhindert wurde.«
Sie drehte die Leiche erneut, sodass sie nun die Rückseite betrachten konnten.
»Wie Sie sehen, keine Verfärbungen. Schlussfolgerung: Die Frau wurde getötet und lag anschließend mit dem Gesicht nach unten. In dieser Stellung setzte die Bildung der Leichenflecke ein. Der Vorgang beginnt gewöhnlich eine Stunde nach dem Tod und ist nach drei bis vier Stunden abgeschlossen. Wenn die Leiche innerhalb dieses Zeitraums bewegt wird, kann die ursprüngliche Verfärbung teilweise verschwinden und an anderen Stellen auftreten, wenn das Blut sich verlagert. Wird die Position zwölf Stunden nach dem Tod verändert, entstehen keine neue Leichenflecke mehr, weil das Blut sich zu diesem Zeitpunkt verfestigt hat.«
Behutsam legte sie die Leiche zurück. »Meiner Ansicht nach wurde sie in einem Haus oder vielleicht in einem Auto durch den Schuss in den Mund getötet. Vermutlich blieb die Leiche über einen Zeitraum von vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden am ursprünglichen Tatort und wurde dann an die Stelle gebracht, wo man sie fand. Sie kann nicht länger als zehn oder zwölf Stunden im Wald gelegen haben.«
»Und der Transport im Wagen? Und das Plastik?«, fragte King.
»Was hätte der Täter denn tun sollen? Sie auf den Armen über die Straße tragen?«, entgegnete
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