Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
verwanzen, bevor er den Jungen getötet hatte. Alles war nur eine Frage der Taktik.
Er rieb sich den Rücken, wo er im Kampf mit Junior Deaver verletzt worden war. Eine weitere Begegnung dieser Art durfte er sich nicht erlauben. Er hatte gesehen, wie Michelle Maxwell den Holzpfosten ohne sichtliche Anstrengung zerbrochen hatte. Sie war eine gefährliche Frau. Und King war auf seine Art noch viel gefährlicher. Er war sogar der einzige Mensch, vor dem er wirklich Angst hatte, dem er zutraute, dass er ihm im Kampf überlegen war. Vielleicht sollte er in der Sache etwas unternehmen. Und vielleicht würde er dann auch Michelle töten müssen, um zu vermeiden, dass die Frau sich für den Tod ihres Partners an ihm rächte.
Als der Wagen vor ihm in eine lange Auffahrt einbog, die zu einem großen Ziegelhaus im Kolonialstil führte, schwenkte er in eine Seitenstraße, wo er den Pick-up parkte und die Kopfhörer aufsetzte, die er unter seinem Hut versteckt hatte. Er hantierte mit einem Empfänger, der auf dem Beifahrersitz lag, und fand schließlich die Frequenz des Senders, den er im Haus von Canney versteckt hatte. Er lehnte sich zurück und wartete, dass die Show begann.
KAPITEL 47
»Und was macht Roger Canney?«, fragte Michelle, als sie sich in dem eindrucksvollen Haus umsah. Eine Haushälterin hatte sie hereingelassen und war nun unterwegs, um ihren Arbeitgeber zu holen.
»Keine Ahnung«, antwortete King. »Aber er scheint es ziemlich gut zu machen.«
»Woran ist seine Frau gestorben?«
»Auch das ist mir nicht bekannt. Ich bin nicht mit Canney befreundet.«
Michelle blickte sich immer noch um. »Weißt du, was ich hier nicht sehe?«
King nickte. »Familienporträts.«
»Was hältst du davon?«
»Entweder wurden sie vor kurzem entfernt, weil dem Vater in seiner überwältigenden Trauer der Anblick unerträglich war, oder es gab hier nie welche.«
»Überwältigende Trauer? Er hat seinen Sohn praktisch im Schutz der Dunkelheit beerdigt.«
»Jeder drückt seine Gefühle auf unterschiedliche Art aus, Michelle. Manche Leute sollen sogar Holzpfosten mit einem Fußtritt zertrümmern, wenn sie wütend sind.«
Roger erschien eine Minute später – ein großer, herber Mann mit krummen Schultern und unglücklichem, blassem Gesicht. Er bedeutete ihnen, sich auf die Couch im Wohnzimmer zu setzen; dann nahm er ihnen gegenüber Platz. Er sah sie nicht an, wenn er sprach, sondern hatte den Blick auf die Deckenbalken gerichtet.
»Mir ist nicht klar, warum eine weitere Befragung notwendig ist«, begann er.
»Ich weiß, dass es eine sehr schwierige Zeit für Sie ist«, sagte King, »aber…«
»Ja, schon gut«, unterbrach Canney ihn. »Bringen wir es hinter uns.«
Sie gingen die Standardfragen durch, die Canney einsilbig beantwortete.
»Also gab es keine Feinde an der Schule«, sagte King. »Zumindest keine, über die Ihr Sohn gesprochen hat.«
»Steve war sehr beliebt. Alle haben ihn gemocht. Er konnte niemandem etwas Böses antun.«
Er sagte es nicht wie ein stolzer Vater, sondern eher in ironischem Tonfall. King und Michelle warfen sich einen irritierten Blick zu.
»Hat er jemals erwähnt, dass er sich mit Janice Pembroke trifft?«, fragte Michelle.
»Steve hat mir nichts über sein Privatleben anvertraut. Wenn der Junge mit irgendeiner Schlampe rumgevögelt hat, war das seine Sache. Er war siebzehn und voller aufgestauter Hormone. Aber wenn er ein Mädchen geschwängert hätte, wäre ich ziemlich sauer geworden.«
»Wie lange ist Ihre Frau schon tot?«, fragte Michelle.
Canneys Blick löste sich von der Decke und richtete sich auf sie. »Was tut das zur Sache?«
»Ich bin nur neugierig.«
»Dann sollten Sie Ihre Neugier auf den Fall beschränken, an dem Sie arbeiten.«
»Okay. Fällt Ihnen etwas ein, das Steve Ihnen gesagt hat, oder irgendetwas, das Sie zufällig mitgehört haben? Vielleicht auch nur eine Bemerkung seiner Freunde, die in irgendeiner Weise relevant für den Mord sein könnte?«
»Hören Sie, ich habe Ihnen schon gesagt, dass wir nicht gerade dicke Kumpel waren. Wir haben im selben Haus gewohnt, aber das war’s auch schon.«
»Gibt es einen Grund, warum Sie und Ihr Sohn sich nicht gut verstanden haben?«, fragte King.
»Wir hatten beide unsere Gründe, aber die haben nichts mit seinem Tod zu tun.«
»Ich fürchte, es liegt an uns, das zu entscheiden. Wenn Sie also bitte die Frage beantworten würden…«
»Ich fürchte, diese Bitte muss ich ablehnen«, erwiderte Canney
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