Sean King 03 - Im Takt des Todes
seiner letzten Anschrift nach hier weitergeleitet worden. Andere waren die typischen Rechnungen und Werbepost, unter denen die gesamte Menschheit zu leiden hatte. Doch da war noch ein Brief von Michelles Eltern aus Hawaii. Vermutlich wollten sie ihrer Tochter nur mitteilen, wie viel Spaß sie auf der Reise hatten.
Als Horatio darüber nachdachte, kam ihm eine Idee, und er rief Bill Maxwell in Florida an. Beim zweiten Klingeln nahm er ab.
»Rufe ich zu einem schlechten Zeitpunkt an?«, fragte Horatio. »Sollten Sie gerade auf einer wilden Verfolgungsjagd sein, legen Sie mich ruhig in die Warteschleife. Ich warte dann, bis Sie die bösen Jungs geschnappt haben oder ich den Wagen irgendwo gegen krachen höre.«
Bill lachte. »Ich habe heute dienstfrei. Eigentlich wollte ich angeln gehen. Was gibt’s? Wie geht es Michelle?«
»Immer besser. Weshalb ich anrufe, Bill – leben Ihre Eltern noch in Tennessee?«
»Ja. Nachdem Pop in den Ruhestand gegangen ist, haben sie sich ein neues Haus gebaut. Wir haben damals alle geholfen. Ein Polizeichef verdient gutes Geld, aber bei so vielen Kindern kann man kaum sparen. Auf diese Weise haben wir uns bedanken wollen.«
»Dann sehen Sie Ihre Eltern oft?«
»Nein. Vier-, fünfmal im Jahr. Schließlich wohne ich hier in Tampa. Flüge sind teuer, und es ist eine lange Fahrt bis Tennessee. Außerdem habe ich selbst drei Kinder.«
»Und Ihre Brüder?«
»Die sehen unsere Eltern vermutlich öfter als ich. Sie wohnen nicht so weit weg.«
»Und Michelle? Ich nehme an, sie sieht Ihre Eltern häufig, oder? Schließlich lebt sie in Virginia mehr oder weniger nebenan.«
»Ich glaube nicht, dass sie oft bei ihnen ist. Ich hab sie nie angetroffen, wenn ich bei unseren Eltern war, und mit meinen Brüdern spreche ich regelmäßig. Keiner von ihnen hat je erwähnt, Michelle bei unseren Eltern gesehen zu haben.«
»Vielleicht sind Ihre Eltern ja zu ihr gefahren.«
»Michelle hatte nie eine Bleibe, wo für Besucher Platz gewesen wäre«, erwiderte Bill. »Ich habe es ein paarmal versucht, weil meine Kinder sie gern haben. Sie finden es cool, dass ihre Tante an der Olympiade teilgenommen und sogar den Präsidenten bewacht hat. Aber Michelle hatte immer sehr viel zu tun. Als sie noch beim Secret Service war, konnte ich das ja noch verstehen; aber als sie in die Privatwirtschaft gewechselt ist, hätte man doch glauben sollen, dass sie ein bisschen mehr Freizeit hat. Das war aber nie der Fall.«
»Wann haben Sie Ihre Schwester zum letzten Mal gesehen?«
»Vor ein paar Jahren. Und das auch nur, weil ich beruflich in Washington war. Wir haben zusammen zu Abend gegessen. Damals war sie noch beim Secret Service.«
»Haben Sie das Gefühl, dass sie sich von Ihrer Familie entfremdet hat?«
»Erst als Sie angefangen haben, all diese Fragen zu stellen.«
»Tut mir leid, wenn es den Anschein erweckt, als würde ich im Leben Ihrer Familie herumschnüffeln, aber ich muss alles versuchen, damit es Michelle wieder besser geht.«
»Ich weiß. Michelle ist in Ordnung, wenn auch ein bisschen schrullig.«
»Schrullig. Ja, das ist das richtige Wort. Ich habe mir gerade ihren Wagen angesehen.«
Bill lachte. »Und? Haben Sie schon das Gesundheitsamt angerufen, um die Kiste unter Quarantäne stellen zu lassen?«
»Offenbar kennen Sie den Wagen.«
»Als ich vor ein paar Jahren bei ihr war, hat sie mich mit der Kiste zum Essen gefahren. Ich hab die Luft angehalten und anschließend zweimal in meinem Hotel geduscht.«
»Haben Sie je gesehen, dass Michelle sich übertrieben häufig oder gründlich die Hände gewaschen hätte? Dass sie Türen überprüft hat, bevor sie sie geöffnet hat, oder Stühle, bevor sie sich gesetzt hat?«
»Sie meinen, wie bei einer Zwangsstörung? Nein, ich kann mich nicht erinnern.«
»Und im Alter von sechs Jahren hat sich das bei Michelle dann alles verändert?«
»Ich war gerade mit dem College fertig und nicht viel zu Hause, aber als ich für ein paar Monate wieder bei meinen Eltern gewohnt habe, war Michelle ein anderer Mensch geworden. Sie haben damals in einer kleinen Stadt gut eine Stunde südlich von Nashville gelebt.«
»War es nicht vielleicht doch eine Persönlichkeitsveränderung, wie Kinder sie beim Älterwerden durchmachen? Dann wäre es ziemlich normal.«
»Es war mehr als das, Horatio. Meine Kinder haben sich auch verändert, aber nicht so plötzlich.«
»Sie haben gesagt, Michelle hätte sich von extrovertiert zu introvertiert entwickelt, von gesellig zu
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