Sean King 03 - Im Takt des Todes
schüchtern, von vertrauensvoll zu misstrauisch. Und sie hat viel geweint, nicht wahr?«
»Ja. Nachts.«
»Und sie ist immer schlampiger geworden?«
»Oh ja. Ich erinnere mich vor allem an den Fußboden in ihrem Zimmer. Er war immer blitzblank. Dann, praktisch über Nacht, war überall nur noch Müll. Man konnte nicht mal mehr den Teppich sehen. Ich habe das immer darauf geschoben, dass sie ein rebellischer Frechdachs war.«
»Das würde einige Dinge erklären, Bill, aber nicht alles. Und wenn in meinem Beruf etwas unerklärlich ist, muss ich den Grund herausfinden. Denn irgendwo gibt es eine Erklärung, und mag sie noch so tief vergraben sein.« Horatio hielt kurz inne. »Okay, in Anbetracht der nächsten Frage, die ich Ihnen stellen muss, bin ich froh, dass Sie tausend Meilen weit weg sind.«
»Michelle ist nie missbraucht worden.«
»Wie ich sehe, haben Sie schon darüber nachgedacht.«
»Ich bin Cop. Ich habe missbrauchte Kinder gesehen und ein paar wirklich albtraumhafte Situationen erlebt, aber Michelle war nie so. Sie hat nie eines der typischen Anzeichen für Missbrauch gezeigt, und Pa würde nie … Ich meine, er war nicht so einer. Außerdem war er Cop; deshalb haben wir ihn ohnehin nur selten zu Hause gesehen. Und hätte ich je auch nur eine Sekunde lang den Verdacht gehegt, dass etwas Derartiges vor sich gehen könnte, hätte ich sofort was dagegen unternommen. Schließlich bin ich nicht deshalb Polizist geworden, weil ich in die andere Richtung schaue, wenn es drauf ankommt.«
»Da bin ich mir sicher, Bill. Aber haben Ihre Eltern eine Erklärung für Michelles Veränderung gehabt? Haben sie je professionelle Hilfe gesucht?«
»Nicht, dass ich wüsste. Es war aber auch nicht so, als hätte Michelle irgendwelche Anfälle gehabt oder kleine Tiere zerstückelt oder so was. Außerdem ist man damals noch nicht wegen jeder Kleinigkeit zu einem Psychiater gerannt oder hat sein Kind mit Ritalin vollgestopft, weil es nicht zehn Minuten lang ruhig sitzen kann … Das sollte jetzt keine Beleidigung sein, Doc.«
»Oh, ich kenne eine Menge Psychiater, die man besser als Pharmakologen bezeichnen sollte. Haben Sie je mit Ihren Eltern über Michelle gesprochen?«
»Ich glaube, wir sind alle irgendwann zu dem Schluss gekommen, sie ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Und sollte sie sich unserer Familie je wieder anschließen wollen, sind wir für sie da.«
»Und Sie haben Ihren Eltern nichts von Michelles derzeitiger Situation erzählt?«
»Nein. Wenn sie nicht will, dass Mom und Dad davon erfahren, dann ist es nicht an mir, es den beiden zu sagen. Außerdem … glauben Sie, ich will den Zorn einer Olympionikin mit schwarzem Gürtel auf mich ziehen, Schwester hin oder her?«
Horatio lachte. »Darauf würde ich auch keinen Wert legen. Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, was mir helfen könnte?«
»Geben Sie mir einfach meine kleine Schwester zurück, Doc. Wenn Sie das schaffen, haben Sie in Tampa einen Freund fürs Leben.«
15.
L en Rivest führte Sean durch Babbage Town. Hinter dem großen alten Herrenhaus befand sich ein Netzwerk aus Gebäuden unterschiedlicher Größe. Sean fiel auf, dass neben jeder Tür eine Sicherheitstastatur angebracht war. Eines der größten Gebäude nahm eine Fläche von fast einem Viertel Morgen ein und war von einem sieben Fuß hohen Zaun umgeben. Das Gebäude hatte einen Anbau, der an ein Getreidesilo erinnerte.
Sean deutete auf den Anbau. »Was ist da drin?«
»Wasser. Damit werden Teile der Anlage gekühlt.«
»Und was befindet sich in den anderen Gebäuden?«
»Andere Dinge«, antwortete Rivest ausweichend.
»Und in welchem hat Monk Turing gearbeitet? Was hat er hier eigentlich gemacht?«
»Ich hatte gehofft, diese Frage vermeiden zu können«, sagte Rivest.
»Ich dachte, Sie hätten uns angeheuert, damit wir herausfinden, wie Monk Turing gestorben ist. Wenn Sie das allerdings nicht wollen, Len, dann sagen Sie es einfach, und ich kann wieder nach Hause fahren, ohne meine und anderer Leute Zeit zu verschwenden. Champ Pollion hat mir gerade eine halbe Stunde lang mit vielen Worten gar nichts erzählt, und ich habe nicht die Absicht, mir das Gleiche jetzt noch mal von Ihnen anzuhören.«
Rivest schob die Hände in die Taschen. »Tut mir leid, Sean. Ich weiß, dass Sie mit Joan beim Secret Service waren, und ich mag es ja auch nicht, Katz und Maus mit einem ehemaligen Kollegen zu spielen. Unter uns gesagt, glaube ich, dass die … nun ja, Mächte im Hintergrund inzwischen
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