Sean King 03 - Im Takt des Todes
tausend Jahren hat man den so genannten Cäsarschlüssel, einen einfachen Verschiebeschlüssel, für bombensicher gehalten, doch die Araber haben ihn förmlich auseinandergenommen. Deshalb war der Vigenère-Chiffre so revolutionär: Die Häufigkeitsanalyse war bei ihm nutzlos.«
Sean wand sich ein wenig auf seinem Stuhl ob dieser in die Länge gezogenen Geschichtsstunde.
»Bitte entschuldigen Sie, Mr. King«, sagte Champ. »Aber ich verspreche Ihnen, dass ich noch auf den Punkt kommen werde.«
»Nein, nein, das ist sehr interessant«, sagte Sean und unterdrückte ein Gähnen.
»Wie gesagt, war die Häufigkeitsanalyse nutzlos gegen das Vigenère-Monster, so kunstvoll und intelligent war es gemacht. Und doch ist es dem alten Charlie Babbage gelungen, ihm das Messer direkt ins numerische Herz zu stoßen.«
»Und wie?«, fragte Sean.
»Er hat den Code aus einer höchst originellen Richtung angegriffen und damit einen Kryptoanalysestandard für Generationen geschaffen. Allerdings hat er nie den Ruhm dafür geerntet, denn er hat seine Ergebnisse nie publiziert.«
»Wie ist Babbages Entdeckung dann bekannt geworden?«
»Als die Wissenschaftler im zwanzigsten Jahrhundert seine Aufzeichnungen durchgegangen sind, lange nach seinem Tod, haben sie entdeckt, dass er der Erste war, dem das gelungen ist. Und jetzt komme ich zum Punkt: Ich habe diesen Ort ›Babbage Town‹ getauft als Hommage an einen Mann mit brillantem Verstand, aber ohne jedes Talent zur Selbstvermarktung. Wie auch immer, sollten wir unsere Ziele hier erreichen, hege ich keinerlei Zweifel, dass wir sie laut herausschreien werden.« Champ lächelte. »Nachdem wir uns alle notwendigen Patente gesichert haben, werden wir im Geld schwimmen.«
»Dann bekommen also auch Sie ein Stück vom Kuchen?«
»Sonst wäre ich nicht hier. Aber selbst falls wir kein Vermögen verdienen sollten – die Arbeit hier ist bahnbrechend und unglaublich spannend.«
»Wem gehört Babbage Town eigentlich?«
Die Tür öffnete sich, und ein stämmiger kleiner Mann Anfang fünfzig kam ins Zimmer. Er trug einen zweiteiligen Anzug mit gedeckter Krawatte. Sein silbernes Haar war mit Gel zurückgekämmt, und seine blauen Augen schauten wachsam drein. Er blickte von Sean zu Champ.
Champ sagte: »Len, das ist Sean King.«
Und Champ nahm seinen raffinierten, nicht klassischen und nicht funktionstüchtigen Glasröhrchencomputer und ging hinaus. Jetzt erst wurde Sean klar, dass der Mann ihm viel erzählt, aber nichts gesagt hatte.
14.
H oratio Barnes parkte seine Harley vor den Mietshäusern nahe Fairfax Corner, holte die Schlüssel von Seans und Michelles Wohnung aus der Tasche und zögerte dann. Sollte er sich erst den SUV oder erst die Wohnung ansehen? Er entschied sich für den Toyota. Der Wagen stand nahe dem Hauseingang.
Horatio schloss die Fahrertür des SUV auf und öffnete sie.
»Ach du Scheiße!«, war seine erste Reaktion. Sean hatte nicht übertrieben, als er Horatio eine Tetanusauffrischung und das Tragen einer Maske empfohlen hatte. Die Mitte und der hintere Teil der Ladefläche war derart zugemüllt, dass Horatio den Boden nicht mehr sehen konnte: Sportausrüstung, geschmolzene Schokoriegel, leere Flaschen eines Energydrinks, verschimmeltes Essen, eine Packung Schrotpatronen, zerknitterte Kleider und zwei mit Plastik ummantelte Hanteln. Horatio hob eine der Hanteln mit Mühe hoch und blätterte dann durch eine der Kampfkunstzeitschriften, die im hinteren Teil des Wagens gestapelt waren.
»Okay, Notiz für den geschätzten, aber feigen Psychiater: Mach die gute Frau nie sauer, sonst tritt sie dir in deinen dürren alten Hintern.«
Horatio setzte sich kurz auf den Mittelsitz, fuhr die Fenster herunter und dachte nach. Michelle war ein klassischer Typ A, kompakter als das Innere eines Golfballs, und was sah er hier? Ein zugemülltes Chaos?
Horatio ging in die Wohnung im zweiten Stock hinauf. Michelles Schlafzimmer erwies sich als ordentlich und aufgeräumt; die Kleider hingen im Schrank, und auf dem Boden fand sich keinerlei Müll … allerdings nur, weil die Frau nie hier gewesen war. Oben im Schrank befand sich ein abgeschlossenes Waffenfach, wo Michelle vermutlich ihre Pistole aufbewahrte.
Auf dem kleinen Balkon entdeckte Horatio ihr Rennboot. Es war perfekt poliert, und daneben lagen Ruder in einwandfreiem Zustand. Horatio ging wieder in die Wohnung. Auf dem Tisch im Flur lag ein Stapel Post, die er durchschaute. Die meisten Briefe waren an Sean adressiert und von
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