Sean King 03 - Im Takt des Todes
Seelenerkundung von Frau zu Frau.«
Michelles Worte waren so offensichtlich an den Haaren herbeigezogen, dass Cheryl einfach an ihr vorbeiging und lautstark an ihrem Strohhalm saugte. Michelle schlüpfte ins Zimmer und drückte sich gegen die Tür.
Zwanzig Minuten vergingen, und Barry kam nicht. Michelle fürchtete sich nicht körperlich vor dem Mann. Sie hatte ihn schon als typischen Schläger eingestuft, der sofort die Flucht ergreifen würde, wenn ihn ein härterer Schlag traf, als er ausgeteilt hatte. Aber er konnte Michelle noch auf andere Art wehtun – indem er Vorwürfe gegen sie erhob. Oder er schob ihr irgendwelche gestohlenen Medikamente unter. Was würde dann passieren? Würde man sie dann gegen ihren Willen hier festhalten? Musste sie dann ins Gefängnis? Michelle ließ das Kinn auf die Brust sinken, als eine Woge aus Furcht und Schmerz sie durchflutete.
Sean, hol mich von hier weg!
Und dann fiel ihr das Offensichtliche wieder ein: Sie war freiwillig hier. Sie hatte sich selbst eingewiesen; also konnte sie sich auch selbst wieder entlassen. Sie konnte sofort gehen. Sie konnte in die Wohnung, die Sean für sie beide besorgt hatte, sich dort einen Tag entspannen und dann zu ihm nach Virginia fahren. Vermutlich würde er ihre Hilfe ohnehin längst brauchen. Irgendwann brauchte Sean sie jedes Mal bei einem Fall.
Michelle stürmte zur Tür hinaus und hätte fast die Krankenschwester über den Haufen gerannt, die dort stand.
Michelle blinzelte und trat einen Schritt zurück. »Ja?«
»Sandy will Sie sehen«, sagte die Schwester.
»Wie geht es ihr?«
»Ihr Zustand hat sich stabilisiert. Sie will mit Ihnen reden.«
»Was stimmt nicht mit ihr?«
»Ich fürchte, darüber darf ich nichts sagen.«
Natürlich darfst du das nicht.
Michelle ballte vor Zorn die Fäuste, als sie der Frau den Flur hinunter folgte. Dann schritt sie schneller aus. Sie wollte Sandy sehen. Sie wollte Sandy unbedingt sehen.
23.
Horatio Barnes fuhr mit dem Mietwagen vom Flughafen in Nashville ins ländliche Tennessee und suchte nach der kleinen Stadt, in der Michelle im Alter von sechs Jahren gelebt hatte. Er gelangte ans Ziel, nachdem er mehrmals falsch abgebogen war und zurückfahren musste, und erreichte schließlich das kleine, heruntergekommene Stadtzentrum. Dort fragte er im Eisenwarenladen nach der Richtung und fuhr dann nach Südwesten wieder aus der Stadt. Er schwitzte, denn die Klimaanlage hatte ihren Geist aufgegeben.
Das Viertel, in dem Michelle ihre Kindheit verbracht hatte, hatte eindeutig bessere Tage gesehen. Die Häuser waren alt und baufällig, die Höfe verwahrlost und schmutzig. Horatio ging die Hausnummern auf den Briefkästen durch, bis er gefunden hatte, was er suchte: Das Haus der Maxwells lag ein Stück zurückgesetzt, weg von der Straße, und hatte einen großen Hof, auf dem eine sterbende Eiche stand. An einem Ast hing ein Autoreifen an einem verrotteten Seil. In der Einfahrt stand ein Ford Pick-up aus den Sechzigerjahren, aufgebockt auf Ziegelsteinen. Horatio sah die Stümpfe einer Hecke, die einst die Vorderseite des Hauses umschlossen hatte.
Die Farbe an der Holzverschalung blätterte ab, und das Mückengitter an der Eingangstür war abgefallen und lag rostend auf den Stufen. Horatio vermochte nicht zu sagen, ob hier jemand wohnte oder ob das Haus – offenbar ein altes Bauernhaus – leerstand. Vermutlich hatten die ursprünglichen Eigentümer das Land verkauft, und das Viertel war um ihr altes Heim herum aus dem Boden gewachsen.
Horatio fragte sich, wie es wohl für ein junges Mädchen gewesen sein musste, hier allein mit ihren Eltern aufzuwachsen, deren Söhne bereits junge Männer waren. Und er fragte sich erneut, ob Michelle ein »Unfall« oder ein Wunschkind gewesen war. Hätte das einen Einfluss darauf gehabt, wie ihre Eltern sie behandelt hatten? Aus Erfahrung wusste Horatio, dass so etwas in beide Richtungen laufen konnte.
In welche Richtung war es für Michelle gegangen?
Horatio fuhr an den Straßenrand, stieg aus, schaute sich um und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. Offenbar hatte man hier keine Bürgermiliz oder dergleichen, denn niemand schenkte ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich gab es hier aber auch nichts, was es wert gewesen wäre, gestohlen zu werden.
Horatio ging die Kieseinfahrt hinauf. Beinahe rechnete er damit, dass ein alter Hund um die Ecke gehumpelt kam, die Zähne gefletscht und begierig darauf, einem Fremden ins
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