Sean King 03 - Im Takt des Todes
eingeschlafen sein; offenbar tat sie nur so, als würde sie schlafen. Aber warum hatte sie die Stationsapotheke beobachtet? Gehörte das zu Barrys Plan – was immer dieser Mistkerl im Schilde führte? Michelle wollte es nicht glauben, konnte die Möglichkeit aber auch nicht ausschließen.
Sie schlich in ihr eigenes Zimmer zurück und legte sich aufs Bett, fand aber keinen Schlaf, sondern wälzte sich unruhig hin und her, während ihr die verschiedensten Erklärungen für ihre Beobachtungen durch den Kopf gingen. Doch jede dieser Theorien war unwahrscheinlicher als die vorherige.
Nachdem sie schließlich doch noch ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte, ging Michelle müde zum Frühstück hinunter, nahm dann an einer weiteren Gruppensitzung teil, die Horatio für sie arrangiert hatte, und begab sich anschließend geradewegs zu Sandys Zimmer. Doch Sandy war nicht allein. Ein Arzt, zwei Krankenschwestern und ein Wachmann standen um ihr Bett. Sandy schlug um sich und stöhnte.
»Was ist mit ihr?«, fragte Michelle erschrocken.
Eine der Krankenschwestern drehte sich zu ihr um. »Gehen Sie sofort wieder in Ihr Zimmer zurück«, sagte sie streng.
»Erst will ich wissen, was mit Sandy ist«, erwiderte Michelle.
Der Wachmann trat drohend auf sie zu. »Verschwinden Sie«, sagte er. »Sofort.«
Michelle drehte sich um und ging – aber nur bis zu einer dunklen Nische in der Nähe.
Ein paar Minuten später wurde ihre Hartnäckigkeit belohnt, als die Gruppe Sandys Zimmer verließ und an ihrem Versteck vorbeikam. Sandy lag angeschnallt auf einer Rollbahre und hatte eine Infusion im Arm. Sie rührte sich nicht, lag offenbar im Medikamentenschlaf.
Michelles Secret-Service-Ausbildung schlug Alarm, und sie ließ den Blick von Sandys Arm zu den Händen wandern. Was sie dort sah, verwirrte sie zutiefst. Sandy hatte stets großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt.
Michelle wartete, bis die Gruppe außer Sicht war, huschte dann in Sandys Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie Sandys Krankheit dazu nutzte, ihr Zimmer zu durchsuchen, aber es ging nicht anders. Außerdem dauerte es nicht lange, denn Sandy hatte nur wenige persönliche Dinge mitgebracht. Was Michelle jedoch verwunderte, war etwas, das sie nicht sah: Es gab keine Fotos von Freunden oder Verwandten. Andererseits hatte auch Michelle keine solchen persönlichen Dinge mitgebracht. Doch nachdem Sandy so liebevoll von ihrem verstorbenen Mann erzählt hatte, hätte man eigentlich damit rechnen können, wenigstens ein Foto von ihm zu finden. Aber vielleicht wollte Sandy angesichts der schrecklichen Umstände seines Todes nicht ständig daran erinnert werden.
Michelle schaute sich weiter im Zimmer um, bis ihr Blick auf dem Blumenstrauß haften blieb. Sie schaute sich den Nachttisch genauer an, auf dem der Strauß stand, und fuhr mit dem Finger durch die dünne Staubschicht. Dann richtete sie den Blick auf den Boden, wo sie ebenfalls feine Staubpartikel entdeckte. Genau das hatte Michelle auch an Sandys Händen so verwirrt: Sie waren schmutzig gewesen, als hätte Sandy …
Michelle huschte durchs Zimmer und drückte sich neben der Tür an die Wand, als sie draußen jemanden hörte. Sie hielt den Atem an, als die Tür sich langsam öffnete.
Als der Unbekannte ins Zimmer kam und zum Bett ging, schlüpfte Michelle auf den Gang hinaus. Ein hastiger Blick über die Schulter zeigte ihr, dass es Barry war, der sich auf Sandys Bett zubewegte.
Michelle rannte den Flur hinunter zur Schwesternstation. »Ich habe gerade jemanden in Sandys Zimmer schleichen sehen!«, sagte sie atemlos zur Dienst habenden Schwester. »Ich glaube nicht, dass er dort sein sollte, denn Sandy ist krank.« Die Schwester stand sofort auf und eilte den Gang hinunter.
Michelle floh in ihr eigenes Zimmer und wäre beinahe mit Cheryl zusammengestoßen, die gerade mit einem Strohhalm im Mund zur Tür herauskam. Michelle versuchte, diese Chance zu nutzen, denn sie wollte jetzt nicht allein sein, falls Barry es ihr heimzahlen wollte, weil sie ihn verpfiffen hatte.
»Hallo, Cheryl. Hast du Lust auf ein Schwätzchen?«
Cheryl hörte auf zu nuckeln und schaute Michelle an, als sähen sie sich zum ersten Mal.
Michelle sagte rasch: »Ich meine … wir teilen uns immerhin ein Zimmer, da sollten wir uns näher kennen lernen. Außerdem sagt man uns allen ja immer wieder, dass wir versuchen sollen, Beziehungen aufzubauen, als eine Art Therapie … ein bisschen
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