Sean King 03 - Im Takt des Todes
Es wurde aber auch Michelles Unfähigkeit erwähnt, anderen zu vertrauen. Die beiden Agenten, mit denen Horatio unabhängig voneinander gesprochen hatte, hatten erstaunlich ähnliche Bemerkungen über sie gemacht. Beide Männer hatten gesagt, sie hätten nie die rätselhafte Person hinter der kugelsicheren Weste und der Glock kennen gelernt.
Horatio hatte schon Patientinnen wie Michelle gehabt, und er hatte allen nach besten Kräften helfen wollen, doch bei Michelle fühlte er sich auf besondere Art verpflichtet, die Dinge zurechtzurücken. Das lag womöglich daran, dass sie ihr Leben für ihr Land riskiert hatte, oder vielleicht auch daran, dass sie Sean Kings beste Freundin war – und Sean war ein Mann, den Horatio respektierte wie kaum einen anderen. Oder es lag einfach daran, dass Horatio einen so tiefen und schrecklichen Schmerz in ihr spürte, dass er ihr einfach helfen musste , diesen Schmerz zu bekämpfen.
Aber da war noch ein anderer Grund, über den er weder mit Sean King noch mit Michelle gesprochen hatte. Menschen, die versuchten, ihrem Leben ein Ende zu setzen – egal wie amateurhaft sie zuerst vorgehen mochten –, wurden mit der Zeit besser, sodass sie spätestens nach dem dritten, vierten oder auch sechsten Versuch in der Gerichtsmedizin landeten. Horatio durfte nicht zulassen, dass es auch Michelle Maxwell so erging.
Bald hatte er eine Woche Urlaub. Eigentlich hatte er nach Kalifornien fliegen wollen, um mit ein paar Freunden krabbentauchen zu gehen. Stattdessen ging er jetzt online und buchte einen Flug nach Nashville.
22.
G enau um ein Uhr morgens hörte Michelle wieder Schritte. Sie stand auf und schlüpfte zur Tür hinaus. Sie würde schon herausfinden, was Barry der Spanner im Schilde führte. Michelle betete, dass es eine Straftat war.
Sie machte sich auf den Weg den abgedunkelten Flur hinunter und versuchte, die Geschwindigkeit der leisen Schritte vor sich abzuschätzen. Wo der Gang nach rechts abbog, blieb sie stehen, spähte um die Ecke und sah ein Licht in einem Zimmer am Ende des Flurs. Sie schob sich weiter vor, bis sie sah, um welchen Raum es sich handelte. Es war die Stationsapotheke, in der sich irgendjemand aufhielt. Als eine Gestalt im Glasfenster der Tür erschien, erkannte Michelle, dass es sich nicht um Barry handelte, sondern um den kleinen Mann, den sie zuvor schon einmal dort gesehen hatte.
Was tut der Bursche da?, fragte sich Michelle. Er war ein bisschen spät, um Medikamente zu verteilen.
Noch als sie dort stand, erschien eine weitere Gestalt neben der Tür zur Apotheke. Diesmal war es Barry. Er schaute sich vorsichtig um, ging dann hinein und schloss die Tür hinter sich.
Michelle schlich so nahe heran, wie sie es wagte, um besser sehen zu können. Und dann traf die Erkenntnis sie wie ein Schlag. Warum war Barry um diese Uhrzeit überhaupt hier? Er hatte gerade erst Tagschicht gehabt. Michelle wusste inzwischen, dass das Personal Zwölfstundenschichten fuhr und dass der Wechsel jeweils um acht Uhr morgens und um zwanzig Uhr abends stattfand. Barry hatte seit fünf Stunden dienstfrei.
Michelle hörte es, bevor sie etwas sah: das leise Quietschen von Gummi auf Linoleum. Zunächst glaubte sie, es seien die Sneaker, die von den Krankenschwestern getragen wurden, doch dann sah sie den Rollstuhl. Sandy war voll angekleidet, und ihre Hände trieben schwungvoll die Räder an. Dann stoppte sie, den Blick aufmerksam auf die Apothekentür gerichtet. Als Sandy plötzlich den Kopf herumriss und in die andere Richtung schaute, zog Michelle sich blitzschnell zurück. Eine Minute später, als sie wieder einen Blick um die Ecke wagte, war Sandy verschwunden. Kurz darauf verließ auch Barry die Stationsapotheke, gefolgt von dem anderen Mann, der hinter sich abschloss. Glücklicherweise gingen sie in die Michelle entgegengesetzte Richtung davon.
Kaum waren die Schritte der beiden Männer verhallt, trat Michelle aus den Schatten und näherte sich vorsichtig der Apotheke. Sie war erstaunt, dass Barry und der andere Mann den Raum mit leeren Händen verlassen hatten. Was ging hier vor?
Dann richtete Michelle ihre Aufmerksamkeit auf den anderen Gang, der zu Sandys Zimmer führte. Langsam und mit kleinen, leisen Schritten bewegte sie sich den Flur hinunter und drückte sich dabei an die Wand. Schließlich erreichte sie Sandys Zimmer. Michelle spähte durch das kleine Fenster in der Tür und sah Sandys schemenhafte Gestalt auf dem Bett liegen. Doch so schnell konnte Sandy unmöglich
Weitere Kostenlose Bücher