Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
entgangen war. Wie er schon häufiger hatte feststellen müssen, war ihre Nachtsicht geradezu übermenschlich.
»Wo?«, flüsterte Sean ihr ins Ohr.
»Auf der Veranda.«
Sean starrte in die angegebene Richtung und sah eine kleine Gestalt auf den Stufen sitzen. Michelle raunte: »Das könnte Gabriel sein, der kleine Junge, den die MP verhört hat. Er war fast neun, stand in dem Bericht. Damit wäre er jetzt zehn oder elf.«
Sie warteten, ob jemand sich zu Gabriel gesellte. Rasch wurde es heller, und irgendwo krähte ein Hahn.
»Das habe ich auch schon lange nicht mehr gehört«, gestand Sean.
»Wir müssen etwas tun«, sagte Michelle. »Wir verlieren unsere Deckung, und wenn es noch heller wird, sieht er den SUV.«
»Du links, ich rechts.«
Sie trennten sich. Eine Minute später schlichen sie von zwei Seiten auf die Gestalt zu, die sich beim Näherkommen tatsächlich als ein kleiner Junge erwies.
Ein kleiner Junge, der weinte. Tatsächlich weinte er so heftig, dass er nicht einmal bemerkte, wie Michelle neben ihn trat. Als sie ihn an der Schulter berührte, sprang er auf und wäre fast die Stufen hinuntergefallen. Sean konnte ihn gerade noch rechtzeitig am Arm packen, bevor er davonlaufen konnte.
»Wer ... wer sind Sie?«, stammelte Gabriel und schaute die beiden Privatdetektive mit verheulten Augen an.
»Bist du Gabriel?«, fragte Michelle und legte dem Jungen die Hand auf den anderen Arm.
»Woher kennen Sie meinen Namen?« Der Junge hatte sichtlich Angst.
»Wir werden dir nichts tun«, sagte Sean. »Wir suchen nur jemanden. Ein kleines Mädchen mit Namen Willa.«
»Sind Sie von der Polizei?«
»Wie kommst du darauf, dass wir von der Polizei sein könnten?«, fragte Michelle und verstärkte den Griff um Gabriels dünnen Arm.
Gabriel schniefte, ließ die Schultern hängen und starrte auf seine nackten Füße. »Ich weiß nicht.«
»Weißt du, wo Willa ist?«
»Ich kenne keine Willa.«
»Das haben wir dich nicht gefragt«, sagte Sean. »Wir haben dich gefragt, ob du weißt, wo sie ist.«
»Nein, weiß ich nicht, okay?«
»Aber du weißt etwas über sie?« Michelle blieb hartnäckig.
Gabriel schaute zu ihr auf. »Ich habe nichts Falsches getan. Und meine Ma auch nicht.«
»Das hat ja auch niemand gesagt. Wo ist deine Mutter?«, fragte Michelle.
»Schläft.«
»Ist sonst noch wer im Haus?«
»Ich glaube, Mr. Sam ist weg.«
»Sam Quarry?«, fragte Sean. »Sie kennen ihn?«
»Ich habe von ihm gehört. Warum glaubst du, dass er weg ist?«
»Der Truck ist nicht da«, antwortete der Junge. »Warum hast du geweint, als wir gekommen sind?«
»Weil ... weil ... nur so.«
»Es muss doch einen Grund dafür geben«, sagte Michelle mit sanfter Stimme. »Brauchen Sie immer einen Grund zum Weinen?«, erwiderte Gabriel trotzig. »Ja.«
»Ich aber nicht. Ich weine manchmal einfach so.«
»Sam ist also weg, und deine Mutter schläft. Ist sonst noch jemand drin?«
Gabriel wollte etwas sagen, hielt dann aber inne.
Sean sagte: »Es ist ganz wichtig, dass wir wissen, wer hier ist.«
»Sind Sie nun von der Polizei oder nicht?«
Michelle zückte ihren Detektivausweis und zeigte ihn dem Jungen. »Wir arbeiten mit dem FBI und dem Secret Service bei Willas Entführung zusammen. Habt ihr hier einen Coushatta-Indianer mit Namen Eugene?«
»Nein, aber wir haben einen, der heißt Fred.«
»Ist er im Haus?«
»Nein, er wohnt in einem alten Trailer auf dem Land. Da lang«, sagte der Junge und deutete nach Westen.
»Wer ist sonst noch drin?«
»Miss Tippi war drin, aber jetzt ist sie weg.«
»Wer ist Tippi?«
»Mr. Sams Tochter. Er hat sie erst vor Kurzem aus dem Heim geholt.«
»Aus dem Heim? Was ist denn mit ihr?«
»Sie ist vor langer Zeit krank geworden. Man hat sie an Maschinen angeschlossen, damit sie atmen kann. Sie war Jahre in dem Heim. Mr. Sam und ich sind immer zu ihr gefahren, um ihr vorzulesen. Jane Austen, ›Stolz und Vorurteil‹. Haben Sie das Buch gelesen?«
»Warum hat er sie nach Hause geholt?«, hakte Michelle nach. »Ich weiß nicht. Er hat's einfach getan.«
»Und jetzt ist sie nicht mehr hier?«
»Jedenfalls nicht in ihrem Zimmer. Ich hab nachgesehen.«
»Hast du deswegen geweint? Weil du glaubst, dass ihr was passiert ist?«
Gabriel schaute Michelle in die Augen. »Ma'am, Mr. Sam ist ein guter Mann. Er hat mich und meine Mom aufgenommen, als wir nicht mehr wussten, wohin wir sollen. Er hilft den Leuten, vielen Leuten. Er würde Miss Tippi nie etwas antun. Er hat alles für sie
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