Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
beobachtete, erinnerte er sich wieder einmal daran, dass dieses eine Leben mehr wert war als alle anderen. Auch die First Lady war ein wichtiger Schützling in der Welt des Secret Service, aber nichts im Vergleich zum Präsidenten. Sollte ein Agent je in die Situation kommen, zwischen beiden wählen zu müssen, wäre die Entscheidung leicht.
Michelle hatte offenbar Seans Gedanken gelesen, denn sie fragte: »Hast du dich je gefragt, was du getan hättest?«
Sean drehte sich zu ihr um. »Was meinst du damit?«
»Wenn du die Entscheidung treffen müsstest, wen von beiden du rettest?«
»Wenn es eine Regel gibt, die der Service einem einhämmert, dann die: Der Präsident ist der Einzige, dessen Leben mit allen Mitteln bewahrt werden muss.«
»Aber nehmen wir mal an, er hätte ein Verbrechen begangen. Und was ist, wenn er durchdreht und die First Lady angreift? Wenn er kurz davor steht, sie umzubringen? Was würdest du tun? Würdest du ihn ausschalten, oder würdest du seine Frau sterben lassen?«
»Warum führen wir eigentlich so ein Gespräch? Ist es nicht deprimierend genug, dass wir auf einer Beerdigung sind?«
»Ich habe mich nur gefragt.«
»Gut, dann frag dich. Ich halte mich da raus.«
»Es ist doch nur hypothetisch.«
»Mir fällt es schon schwer genug, mit der Realität fertig zu werden.«
»Werden wir die First Lady besuchen gehen?«
»Nach unserem letzten Telefonat bin ich da nicht so sicher. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob wir auf derselben Seite stehen.«
»Was meinst du damit?«
Sean stieß einen lauten Seufzer aus. »Schon gut, schon gut.« Er schaute zu dem Mann, der auf sie zukam. »Na, der Tag wird ja immer besser.« Michelle drehte sich um und sah Agent Waters.
»Ich dachte, ich hätte Sie beide gebeten, die Stadt nicht zu verlassen«, sagte er mit scharfem Unterton.
»Haben Sie nicht. Sie sagten nur, wir sollen Ihnen für weitere Fragen zur Verfügung stehen«, erwiderte Michelle. »Und hier sind wir und stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
»Wo waren Sie?«, wollte Waters wissen.
»In Tennessee.«
»Was ist denn in Tennessee?«, hakte er wütend nach. »Eine Spur, von der Sie uns nichts erzählt haben?«
»Nein. Wir waren noch auf einer anderen Beerdigung.«
»Wessen?«
»Auf der meiner Mutter«, sagte Michelle.
Waters musterte sie aufmerksam. Vielleicht glaubte er, Michelle wollte ihn nur provozieren. Schließlich aber schien er zufrieden zu sein. »Tut mir leid«, sagte er. »Kam es unerwartet?«
»Mord kommt in den meisten Fällen unerwartet«, antwortete Michelle und ging weiter in Richtung der geparkten Autos.
Waters blickte Sean an. »Meint sie das ernst?«
»Ich fürchte ja.«
»Verdammt.«
»Und?«, fragte Sean. »Brauchen Sie uns für irgendwas?«
»Nein. Nicht im Moment.«
»Gut. Bis dann.«
Sean holte Michelle ein. Sie wollten gerade in ihren SUV steigen, als sie hinter sich jemanden hörten, der offensichtlich außer Atem war.
»Was ist los, Tuck?«, fragte Sean und packte ihn am Arm. »Komm schon, Mann. Du bist gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen. Da solltest du nicht durch die Gegend sprinten.«
Tuck sog die Luft ein, stützte sich am Wagen ab und nickte in Richtung der Präsidentenlimousine, in die gerade Jane Cox und ihr Mann einstiegen, umringt vom Secret Service.
»Der Kerl, den ich ... mit Pam gesehen habe ...«, keuchte Tuck.
»Was ist mit ihm?«, fragte Michelle.
»Er ist hier.«
»Wo?« Sean schaute sich um.
»Da drüben.«
Tuck deutete zur Limousine.
»Welcher ist es?«
»Der große Kerl gleich neben dem Präsidenten.«
Sean schaute zu dem Mann, dann zu Tuck und schließlich zu Michelle.
»Aaron Betack?«, sagte Sean, und der Regen nahm an Stärke zu.
47.
F ür die Trauergäste wurde ein Empfang gegeben. Nicht im Weißen Haus, sondern im Blair House auf der anderen Straßenseite. Genau genommen war das Blair House nicht ein Haus, sondern vier, die miteinander verbunden und mit ihren siebzigtausend Quadratfuß deutlich größer waren als der Amtssitz des Präsidenten. Normalerweise diente das Blair House ausländischen Würdenträgern oder anderen hochrangigen VIPs als Unterkunft. Harry Truman und seine Familie hatten hier gewohnt, als das Weiße Haus in den 50ern von Grund auf renoviert worden war. Heute würde man sich hier jedoch an Pam Dutton erinnern, ein paar Drinks nehmen und einen Happen essen.
Sean und Michelle gingen durch den Metalldetektor und unter der langen Markise am Eingang hindurch. Während ihrer
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