Sebastian
ist wach. Geh raus in den Hühnerstall und hol die Eier.«
Gebückt lief Lynnea zur hölzernen Anrichte neben dem Spülbecken. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie die Streichhölzer über die ganze Anrichte verteilte, als sie die Schachtel öffnete, um die Lampe anzuzünden.
Leise fluchend riss Mutter ihr die Streichholzschachtel aus der Hand und entzündete die Kerze in der Laterne.
»Nutzlos. Das ist alles, was du bist. Zeit- und Geldverschwendung. Raus jetzt. Raus.«
Lynnea griff nach der Laterne und stöhnte auf, als sie sich bückte, um den Eierkorb aufzuheben.
»Und hör auf zu winseln und zu jammern«, sagte Mutter harsch. »Du hast weniger gekriegt, als du verdienst, und das weißt du auch.«
Wieder quietschte eine Diele.
So schnell sie konnte, verließ Lynnea die Küche. Wenn Vater herunterkam und bemerkte, dass etwas passiert war, würde alles nur noch schlimmer werden. Viel, viel schlimmer.
Aber als sie im Hühnerstall war und die Lampe an den Holzpflock neben der Tür gehängt hatte, stand sie einfach nur da und starrte die verschlafenen Hennen an.
Dies war ihr Leben. Nur dies.
Sie konnte sich nicht an das Leben erinnern, das sie geführt hatte, bevor sie auf den Hof gekommen war. Hatte keine eigene Erinnerung daran, wie es dazu gekommen war, dass sie bei Mutter, Vater und Ewan lebte, nur Mutters Geschichte darüber, wie sie ein kleines verlassenes Mädchen am Straßenrand gefunden hatte.
Ich habe dich am Straßenrand gefunden, und ich kann dich genauso leicht wieder vor die Tür setzen, vergiss das nicht, Fräulein. Du verdienst deinen Lebensunterhalt, oder du gehst zurück auf die Straße, mit nichts als den Kleidern, die du am Leib trägst - genauso, wie ich dich gefunden habe.
Mutter war nie freundlich zu ihr gewesen. Sie schien Ewan und Vater auf eine kaltherzige Weise zu lieben, aber nicht einmal diese kalte Liebe hatte sie dem kleinen Mädchen gegenüber an den Tag gelegt, das sie bei sich aufgenommen hatte. Vielleicht hatte sie sich nach einer eigenen Tochter gesehnt und deshalb an jenem Tag angehalten, um ein zurückgelassenes Kind mitzunehmen.
Das Warum spielte keine Rolle mehr. Jeder Fehler - und ein Kind konnte so viele Fehler machen - wurde mit der Drohung vergolten, sie wieder am Straßenrand auszusetzen. Sie hatte sich nie sicher gefühlt, hatte ständig in der Angst gelebt, dass heute der Tag sein könnte, an dem sie den einen Fehler begehen würde, wegen dem man sie wie einen dreckigen Putzlumpen vor die Tür werfen würde.
Und trotzdem hatte sie diesen Tag anders in Erinnerung, wenn sie selbst versuchte, ihn sich ins Gedächtnis zu rufen. Sie konnte sich daran erinnern, ein glückliches kleines Mädchen gewesen zu sein, das voller Vorfreude die Ränder einer Lichtung erkundete und dann einem Pfad in den Wald hinein folgte, während sie Blumen für ihre Mama pflückte. Als sie aus dem Wald heraustrat, stand sie am Rand einer Straße, mit Blumen in beiden Händen. Sie hatte ihre Mama verloren.
Dann kam die Frau, Mutter, mit dem Pferd und dem kleinen Karren vorbei. Sie starrte Lynnea an, die versuchte, tapfer zu sein und nicht zu weinen, weil sie ihre Mama verloren hatte.
Du bist die Erfüllung eines Wunsches, sagte Mutter, als sie vom Karren stieg. Wie heißt du, Kind?
Lynnea. Ich habe Blumen für meine Mama gepflückt, aber ich weiß nicht, wo sie ist.
Ich bin jetzt deine Mama.
Mutter hob sie auf und setzte sie auf den Karren. Nicht auf den Sitz, sondern auf die Ladefläche. Dann stieg sie selbst auf und schlug nach dem Pferd, damit es ganz schnell lief.
Lynnea wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen ab. Sie wusste nicht, ob es eine wahre Erinnerung war oder ob nur der Wunsch, dass es sich so zugetragen hatte, Mutters Geschichte verändert hatte, damit sie leichter zu ertragen war. Genauso wenig, wie sie wusste, ob sie sich wirklich an einen Mann und eine Frau erinnerte, die wieder und wieder ihren Namen riefen, als ob sie nach ihr suchten.
Es spielte keine Rolle, welche Geschichte die Wahrheit war. Das alles war vor langer Zeit geschehen. Vor sechzehn Jahren, um genau zu sein. Das wusste sie, weil Ewan, kurz nachdem sie zu Mutter gekommen war, seinen sechsten Geburtstag gefeiert hatte. Mutter hatte ihm als besondere Leckerei einen Kuchen gebacken. Als sie sich an diesem Abend bettfertig gemacht hatte, hatte sie Mutter erzählt, an welchem Tag ihr Geburtstag war, so dass Mutter, die doch jetzt ihre neue Mama war, wusste, an welchem Tag sie den Kuchen backen
Weitere Kostenlose Bücher