Sebastian
seiest du, Lee! Du hast mir nie erzählt, warum. All die Jahre und du hast mir nie erzählt, warum.
Er stieß sich von der Wand ab und sah sich um. Ein überwucherter, verlassener Garten - mit einem Fluchtweg, der im Brunnen in seiner Mitte verborgen lag.
»Hier lang. Beeil dich.« Lynnea ging dicht hinter ihm, aber er traute sich noch immer nicht, sie zu berühren, während er einem Pfad in die Mitte des Gartens folgte.
Als er den Brunnen erreichte, lief er um ihn herum und hielt Ausschau nach dem, was hier verborgen lag und sie von diesem Ort fortbringen würde. Auf den Steinen, die den Brunnen formten, wuchs Moos, und der größte Teil des Wassers war von grünen Schlieren überzogen.
Nichts! Aber irgendetwas hier zog ihn an.
Er kniete nieder und tauchte eine Hand in das Wasser. Seine Finger strichen leicht über die Steine - und sein Herz machte einen Sprung, als er hörte, wie die Kreaturen miteinander um die Überreste derer kämpften, die er getötet hatte. Aber die verkohlten Leichen würden rasch uninteressant werden, wenn die Überlebenden in der Nähe frische Beute spürten.
Seine Hand bewegte sich durch das Wasser. Dann fühlte er ein Prickeln, ein Ziehen, ein Gefühl der Wärme genau … dort.
Seine Hand verharrte über dem Stein, und er erinnerte sich plötzlich an etwas, was Lee ihm während eines Besuches im Pfuhl erzählt hatte.
»Die Leute nehmen immer an, dass Brücken so groß sein müssen, dass man wirklich über sie hinübergehen kann«, hatte Lee gesagt. »Aber eine Einmalbrücke kann so klein sein, dass sie in deine Hand passt.«
Sebastian hörte auf, in den Resten seines Abendessens herumzustochern und sah seinen Cousin mit gerunzelter Stirn an. »Eine Einmalbrücke?«
»Ein kleiner Gegenstand, den ein Brückenbauer mit gerade genug Macht für einen Übergang in eine bestimmte Landschaft angefüllt hat.«
»Hört sich nicht besonders nützlich an.«
Lee zögerte und sagte dann leise: »Manchmal ist es die einzige Möglichkeit, von einem Ort zu entkommen.«
Zu dumm, dass Lee ihm nicht erklärt hatte, wie diese Einmalbrücken funktionierten. Musste er irgendetwas tun? Oder würde er in dem Moment, in dem sich seine Hand um den Stein schloss, in eine andere Landschaft gezogen werden?
»Sebastian«, flüsterte Lynnea.
Er blickte auf. Sah eines der Spinnenwesen über die Mauer klettern.
»Nimm meine Hand«, sagte er. Er wagte nicht, sich umzublicken, um zu sehen, was vielleicht sonst noch über die Mauer kam.
Lynnea mit einer Hand festhaltend, umfasste er mit der anderen den Stein. Im gleichen Moment, in dem die Spinne den Boden im Innern des Gartens erreichte, stand er auf und wandte sich vom Brunnen ab.
Er trat einen Schritt nach vorne und zog Lynnea mit sich.
Die Spinne rannte auf sie zu.
Er wusste nicht, wohin die Brücke sie führen würde, aber er vertraute auf Lee, dem einzigen Brückenbauer, der in diesem Garten eine Fluchtmöglichkeit versteckt haben konnte. Und er vertraute Glorianna Belladonna.
Während Gloriannas Name durch seinen Geist hallte, traten Lynnea und er noch einen Schritt nach vorn - und verschwanden in dem Augenblick, als die Spinne sie erreichte.
Wir sehen menschlich aus, aber wir sind es nicht. Ephemera hat uns geformt, uns geschaffen, uns als Antwort auf die Rufe der menschlichen Herzen nach Führung in die Welt gebracht.
Einige von uns haben sich an Orten gesammelt, an denen die Strömungen des Lichts am stärksten sind. Diese Wahrer werden dem ständigen Fluss der Worte der menschlichen Herzen fern bleiben, werden ein einfaches, friedvolles Leben führen, das dem Licht Nahrung sein und seine Strömungen in der Welt erhalten wird. Und im Gegenzug werden diese Strömungen Hoffnung, Mut und Liebe nähren.
Der Rest von uns sind Wächter. Wir wandeln unter den Menschen umher und fühlen, wie sie es tun - gleißende Momente des Glücks, warme Momente der Zufriedenheit, Momente erfüllt von den scharfen Scherben des Neides, des Zorns, der Enttäuschung. Wir trinken von den Quellen der Sorge und speisen am Bankett der Liebe.
Aber wir verstehen, was Ephemera nicht versteht: Dass das menschliche Herz so fließend ist, wie Ephemera selbst, dass ein Herz im Strom der Gefühle treibt, sich manchmal mit ihm zur Seite neigt, manchmal unter der Gewalt eines Sturmes zerbricht. Aber diese Gefühle sind nicht der Grundstein eines Herzens.
Und doch ist selbst ein Grundstein formbar. In einer kleinen Spalte kann ein Samenkorn Halt finden und in der Dunkelheit
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