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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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was hast du gegessen?«
    Krötes Handlanger, die um die Uniformierten herumscharwenzelten, jaulten erschrocken auf. Der Zögling sei verrückt, sagten sie, und müsse behandelt werden. Der Natschalnik blieb kurz vor dem erstarrten Nässi stehen und sah ihn nachdenklich an, dann drehte er sich zu Kröte um.
    »Unverzüglich behandeln«, befahl er.
    Am nächsten Tag verschwand Nässi für immer aus unserem Leben. Die mitleidige Tante Mascha erklärte den Aufsehern, sie hätten sich an ihrem Marx samt Engels versündigt. Einem Narren dürfe man nichts zuleide tun, er stehe unter Gottes Schutz.
    Das Nachtleben der Knirpse begann mit dem Abgang des letzten Zerberus, das war Arsch mit Ohren, kurz der Arsch, der vor dem Schlafen im Zimmer das Licht in den Zimmern ausmachte. Er drehte uns sozusagen den Hahn ab, befahl uns mit seiner versoffenen Stimme zu schlafen und hängte draußen ein mächtiges Vorhängeschloss an die Tür. Wenn dann das Klirren seiner Schlüssel verhallt war, wurde im Zimmer die Amnestie verkündet, und unser eigentliches Leben fing an. Was verboten und strafbar war, das taten wir Knirpse nachts. Schien der Mond ins Fenster, so holten wir Arbeitsmaterial und Werkzeuge aus den Verstecken. Wer geschickte Hände hatte,stellte etwas Wichtiges, Notwendiges her, zum Beispiel Kampfkatapulte nebst Geschossen. Währenddessen erzählte einer von uns allerlei Gruselmärchen oder Vorkommnisse aus dem wahren Leben. Beliebt waren Erinnerungen an das Essen in Freiheit, jeder erzählte, was er früher so gegessen hatte. Ich zeichnete während der Amnestie Kartenspiele oder bog aus Kupferdraht die Profile der Führer. Zwei Stunden nach dem Einschließen schliefen wir ein.
Das Siegesbild
    Die Zöglinge hatten hauptsächlich in Hof und Küche zu arbeiten. Wir fegten den Hof, säuberten die Wege, trugen im Herbst das Laub zusammen und verbrannten es, schippten im Winter Schnee und machten die Wege für Spaziergänge frei. Unter Themis’ Anleitung stapelten wir für den Winter das Brennholz, das Häftlinge gehackt hatten. Am Ende des Winters sortierten wir in den Kellern Gemüse aus, hauptsächlich Kartoffeln. Im Sommer mussten die Älteren von uns auf den Feldern des Heims Möhren, rote Bete und Runkelrüben jäten. Dort arbeiteten auch erwachsene Häftlinge, aber die wurden nicht zu uns gelassen.
    Als schwerste Pflicht galt uns allen, für die Kröte zu posieren. Wir, die Söhne und Töchter von Volksfeinden und Spionen, mussten für die Kinder auf ihren Stalinbildern Modell stehen.
    Besonders ist mir das Frühjahr 1945 in Erinnerung. Für das Gemälde »Kinder gratulieren dem Genossen Stalinzum Sieg« wählte die Kröte ein paar Knirpse aus, darunter auch mich. Sie hatte sich ausgedacht, die Gratulation unter Apfelbäumen stattfinden zu lassen. Wir wurden einzeln, manchmal auch zu zweit in den Garten hinter ihrem Haus geführt, in dem sie zusammen mit einer verhutzelten alten Tante und zwei Hähnen lebte. Hennen sahen wir dort nie.
    Gleich vom Frühstück weg holte mich Holzkopf aus dem Speisesaal und brachte mich zum Ort der Qualen. Unterwegs hielt er unentwegt belehrende Reden und lenkte mich so von der Suche nach wertvollen Gegenständen ab, die wir für unsere Basteleien gebrauchen konnten. Im Garten wechselte ich unter seinen Augen die Anstaltskleidung gegen ein weißes Hemd und kurze Hosen, und die Stofflatschen mit Sohlen aus alten Gummireifen gegen neue Sandalen. Dann bekam ich einen Strauß Feldblumen in die Hand gedrückt und musste, so verkleidet, unter einem blühenden Apfelbaum auf Krötes Erscheinen warten. Unterdessen trug Holzkopf eine Staffelei, eine Leinwand mit Blendrahmen und einen Farbenkasten auf Beinen aus dem Haus, stellte das alles ohne Eile vor mir auf und ging erst danach die Künstlerin holen. Ein paar Minuten später trat, eine lange Papirossa zwischen den Zähnen, die Kröte aus der Haustür. Ohne zu grüßen, kam sie auf mich zu, drehte mit ihren fetten Pranken meinen Kopf in die gewünschte Position, hob meine Hand mit den Blumen hoch über die Schulter, schärfte mir ein, mich nicht zu bewegen, und begann mit der Arbeit. Das Schlimmste an dieser Fron war, dass ich die Angriffe der wütenden Frühjahrsmücken, die mich mit Haut und Haar aufzufressen gedachten, reglos übermich ergehen lassen musste. Sobald ich versuchte, mich der Blutsauger zu erwehren, kam die Kröte fauchend auf mich zu gesprungen, zwickte mich schmerzhaft und rückte meine Gliedmaßen zurecht. Wenn ich ins Kinderheim

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