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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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von draußen ins offene Fenster, dazu benutzten sie eine röhrenförmige Pflanze, die in Sibirien Schirmchen genannt wird. Diese natürlichen Röhren füllten wir auch mit Wasser, und dann bespritzten wir einander, um die Aufmerksamkeit der Zerberusse von den Kampfhandlungen abzulenken.
    Die Kröte konnte nicht begreifen, wo plötzlich die verfluchten Kakerlaken herkamen, noch dazu in so irren Mengen. Unter den Knirpsen und Krümeln ging das Gerücht, die Natschalniks äßen Kakerlaken mit einer speziellen Soße. Einer von den Kleinen fragte denn auch den Aufseher Höllenhund, ob es stimme, dass er Kakerlaken mit Soße esse. Das trug ihm eine mächtige Maulschelle ein.
Das Knirpsenzimmer
    Unser Knirpsenleben spielte sich, wie schon erwähnt, in zwei Räumen des zweiten Stocks ab. Im kleineren Raum, der aus zwei ehemaligen Gefängniszellen bestand, waren die jüngeren Knirpse untergebracht, die Menschewiken, im größeren, aus drei Zellen bestehenden Raum wohnten wir, die Bolschewiken. Nach dem Gesetz derRangordnung unterdrückten wir natürlich die Menschewiken.
    Die Spuren der gemauerten Wände zwischen den ehemaligen Zellen teilten den großen Raum in drei Teile. Gegenüber den drei vergitterten Fenstern waren drei Türen, zwei davon zugenagelt. In ihren Nischen standen zwei kleine Tische, an denen wir spielten oder uns sonst wie beschäftigten; die dritte Tür ließ sich öffnen.
    Wie die Kleinsten sich uns unterordneten, so gehorchten wir widerspruchslos den Dachsen und den Alten, das heißt, wir waren nach den hiesigen Gesetzen ihre Diener, ohne Wenn und Aber, sonst gab’s eine derbe Kopfnuss oder nächtliches »Radfahren« – dem Schlafenden wurden Papierschnipsel zwischen die Zehen gesteckt und angebrannt, worauf er strampelte wie ein Radfahrer.
    In unserem Zimmer stritten wir selten und prügelten uns fast nie. Denn zu unserem Oberhaupt hatten die alten den Stärksten von uns bestimmt, Mundow, abgekürzt Mund, mit vollem Spitznamen Zinke Schiefmund; er war nicht gewalttätig und tat den Seinen nichts zuleide. Von den anderen Knirpsen ist noch der »Eherne Reiter« Petrucha hervorzuheben, den die Kröte so betitelt hatte, weil sie ihn im Hof auf Maschas störrischer Ziege reiten sah, ein ewig hungriger Fresssack, von dem Mascha sagte, er sehe mit dem Mund und denke mit dem Bauch. Dann ein rothaariges Kerlchen, das gern Schmiere stand und Floh genannt wurde; ihm jagten im Hof alle mit dem Schlachtruf »Knackt ihn!« hinterher. Dann noch Majalka, der Einzige von uns, der dieses Spiel mit den Alten spielen durfte und regelmäßig sein Frühstück an sie verlor. Und natürlich Flugplatz, ein breitschultrigerJunge ohne Hals, mit einem Schädel, platt wie ein Flugplatz, auf dem jeder Vorübergehende einen Klaps landete. Bei den kräftigen Klapsen der Alten ging er rechtzeitig in die Knie, um den Hieb abzufedern, und klapperte mit den vorstehenden Glubschaugen.
    Näher eingehen möchte ich auf unser Dummchen, genannt Nässi – ein ganz und gar schutzloses Geschöpf. Er schlief in dem Bett gleich neben der Tür, weil er sich immer einmachte. Trotz seiner Absonderlichkeiten schonten wir ihn. Jeden Tag, eine Stunde vor dem Schlafengehen, manchmal auch morgens, marschierte er im Mittelgang zwischen den Betten auf und ab und skandierte den albernen Vers: »Ro-Pro, Dreck am Po, Ro-Pro, Dreck am Po.« Einmal hörte der Aufseher Geierauge das »Ro-Pro«, packte unsern Dummi am Schlafittchen, drehte ihn zu sich herum und fixierte ihn mit seinen kalten gläsernen Schlangenaugen wie ein zum Opfertod verurteiltes Kaninchen.
    »Weißt du, was das ist, Ro-Pro? Na?«, fragte er und schüttelte Nässi.
    »Nein …«
    »Wer hat dir das beigebracht? Na?«
    »Ich weiß nicht …«, wimmerte der Kleine. »Ro-Pro, das ist die Abkürzung für ›Roter Proletarier‹, und dein Vers ist eine Verhöhnung des Proletariats und der Sowjetmacht. Komm mit, du kleiner Mistkerl!« Er packte den erschrockenen Nässi am Kragen und schleifte ihn in den Karzer. Dort hielt er ihn bei einer Hungerration gefangen und verhörte ihn jeden Tag, bis der verstörte Junge überhaupt nichts mehr sagte.
    Nach ein paar Tagen kam Nässi wieder in unser Zimmer,mager und still. Er marschierte nicht mehr zwischen den Betten auf und ab. Aber er fragte jeden Hereinkommenden mit schwacher Stimme: »Wo warst du, was hast du gegessen?« Einmal stellte er diese Frage einem wichtigen Natschalnik mit Schulterklappen, der zu einer Inspektion gekommen war.
    »Wo warst du,

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