Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
legten Papier darüber. Wir fürchteten, die Wächter könnten ihn entdecken, aber alles ging gut. Denen waren wir egal, sie bereiteten sich auf ihre Neujahrsfeier vor.
Am 31.12. schenkte uns der Gott des Winters wie auf Bestellung eine klare Mondnacht. Im Zimmer war estaghell. Im Mittelgang stellten wir fünf Nachtschränkchen zu einem »Stammes«tisch zusammen. Wir nahmen den kostbaren Beutel aus dem Fenster, und jeder bekam eine Portion der Leckerei aus Roggenbrot. Nachdem unser Zimmerchef Schiefmund die Neujahrsamnestie verkündet hatte, begann die Schlemmerei, wir verspeisten das selbstgemachte Eis zu Ehren des Jahres 1945 und zu Ehren des sibirischen Wintergottes Jepton. Nie zuvor und nie danach im Leben hat einer von uns Knirpsen ein so köstliches Roggeneis gegessen – beim Licht des zum Fenster hereinscheinenden riesigen Mondes mit seiner weißen Eisaureole.
Am 1. Januar wünschten wir Tante Mascha ein gutes neues Jahr und schenkten ihr ein paar Stückchen unseres Eises. Als sie sich unser Geschenk ansah, stieß die größte Obszönflucherin im ganzen Kinderheimkosmos plötzlich Worte hervor, die wir nie zuvor von ihr gehört hatten.
»O mein Gott«, rief sie, »heilige Gottesmutter! Ihr meine armen Kinderchen …« Und sie brach in Tränen aus.
Der Feiertagspony
Anfang 1945 begannen im Kinderheim die Vorbereitungen für den Feiertag des Sieges. Im Februar wurden aus einem Frauengefängnis oder -lager etliche Frauen unter Bewachung zu uns gebracht. Wir mussten im Dzierżyński-Saal vor ihnen antreten, zuerst die Krümel, zum Schluss die Alten. Die Frauen wählten Jungen unterschiedlicherGröße aus und vermaßen sie. Als sie wieder weg waren, wurde in allen Etagen darüber geredet, dass wir bis zum Frühjahr neue Uniformen bekommen würden.
Zum letzten Mal war die Rasselbande des Kinderheims im Februar kahlgeschoren worden. Im April kroch das Gerücht durch die Zimmer, beim nächsten Scheren werde man uns zu Ehren des Sieges einen Pony stehen lassen. Zuerst hielten wir das für Spinnerei. Wir dachten, wir sollten wieder mal verklapst werden. Am 20. April wurde verkündet, am nächsten Tag, also am 21., werde unter dem Dzierżyński-Bild das Scheren der Zöglinge stattfinden. Die 21 ist in der Gaunerwelt eine gute Zahl – also würde man uns einen Pony stehenlassen.
Am Morgen des 21. wurden unter Bewachung bewaffneter Soldaten die Friseure – vier Häftlinge – hereingeführt. Wir wurden etagenweise in den Saal gelassen, angefangen wie immer bei den Kleinsten. Die ersten Krümel, die wieder herauskamen, hatten einen Pony. Also würden auch wir einen bekommen, also war der Sieg nahe, also würde bald Frieden sein, und wir würden nach Hause zurückkehren!
Im Saal erfuhren wir, dass auf Krötes Anordnung die Ponys alle gleich auszusehen hätten und dass wir mit einer Schablone geschoren würden. Jeder musste, wenn er an der Reihe war, die Schablone, die aus festem Papier geschnitten war, mit beiden Händen auf dem Kopf festhalten, und ein Friseur entfernte mit der Handschneidemaschine rundherum die Haare. Ein anderer Häftling sorgte mit der Schere für den letzten Schliff. Das Fließband bestand aus zwei Häftlingen mit Schermaschinenund zweien mit Scheren, aus den Schablonen und unseren Köpfen. Die Friseure arbeiteten ohne Pause den ganzen Tag bis zum späten Abend. In der Nacht vom 21. zum 22. April schliefen wir zum ersten Mal nach all den Jahren unter der Obhut Berijas mit Pony.
Am nächsten Tag mussten wir alle vom Kleinsten bis zum Größten zum Waschen ins Dampfbad und bekamen saubere Wäsche. Am Morgen des 23. fuhr unter Bewachung ein Lieferwagen in den Hof. Soldaten schleppten verschnürte Bündel vom Auto in den Dzierżyński-Saal. Wir waren gespannt.
Beim Frühstück verkündete Geierauge feierlich, unsere alte Kleidung werde durch eine neue Uniform ersetzt. Wir wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Die Krümel und die Knirpse waren heute an der Reihe, gleich nach dem Frühstück, die Dachse und die Alten am Tag darauf. Das ganze Heim geriet in helle Aufregung, wir wollten so schnell wie möglich das Geschenk des Volkskommissars Berija in Augenschein nehmen. Aber bis zum Mittagessen, das sich um anderthalb Stunden verzögerte, wurden die Krümel nicht aus dem Dzierżyński-Saal herausgelassen. Wir bekamen sie erst beim Essen zu sehen. Die neue Uniform war große Klasse, wie wir sagten, das heißt, sie gefiel uns. Graues Hemd mit offenem Kragen, schwarze Hose mit doppeltem Gummizug und
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