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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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zurückging, war ich von Mücken völlig zerstochen, mein Gesicht war geschwollen, und der Kopf dröhnte mir von Holzkopfs Belehrungen. Zwei Tage später wurde ich wieder in den Krötengarten geführt und den entfesselten Insekten zum Fraß vorgeworfen.
    Das fertige Bild sah ich dann im Sommer in Krötes Atelier- und Arbeitszimmer, wohin sie mich befahl, weil ihr jemand hinterbracht hatte, ich hätte auch eine künstlerische Ader und könne aus Kupferdraht die Profile von Stalin und Lenin biegen, obendrein vor Zuschauern.
    Als ich das Zimmer betrat, sah ich mich auf der Leinwand, sehr ähnlich abgebildet, allerdings wohlgenährt, mit rosigen Wangen und lieblichem Gesicht, Stalin einen Blumenstrauß entgegenstreckend. Vor dem Hintergrund blühender Apfelbäume, inmitten einer freudigen Kinderschar stand in der weißen Marschallsuniform mit dem Orden des Sieges auf der Brust der Führer und Lehrer. Ich als Kleinster starrte mit erhobenem Kopf und ergebenem Blick auf den weißen Generalissimus und Gott, den Besieger der Faschisten. Zuerst war ich sprachlos, dann rief ich: »Ist das toll!« Aber gleich darauf fühlte ich mich wieder von dem Mückenpack gepiesackt und begann mich vor dem Bild zu kratzen. Die Kröte riss mich aus meiner Versunkenheit.
    »Na, du Grindrüssel«, schnauzte sie, »dann zeig mal deinen Trick mit dem Stalin-Profil.«
    Ich nahm schweigend den Kupferdraht aus der Hosentasche,zog ihn mit den Fingern gerade, bis er von idealer Glätte war, und begann ihn zu biegen – formte den Umriss, angefangen bei Hals und Kinn, dann weiter aufwärts. Kröte beobachtete äußerst gespannt meine Hände, und als ich den Hinterkopf fertig hatte und wieder beim Hals ankam und mit dem Drahtrest eine Abschlusslinie zog, wie man es auf Verdienstmedaillen sieht, nahm sie ihre Brille von der Nase und befahl mir, das Profil des Führers auf den Tisch zu legen. Ich gehorchte und legte den Draht-Stalin vor sie hin. Sie saugte sich mit ihren vorquellenden Krötenaugen an ihm fest.
    »Nicht übel!«, nuschelte sie. »Aber mach das nicht noch mal, nie wieder, sonst kommst du in ein Sonderlager oder noch weiter weg. Führer aus Draht zu machen ist verboten. Merk dir das fürs ganze Leben.«
    Ich hatte den Eindruck, dass sie die letzten Worte mit einer gewissen Angst sprach, natürlich nicht um mich, sondern um sich. Im Hinausgehen warf ich noch einen Blick auf ihr Gemälde – darüber spazierte eine ausgewachsene Kakerlake. Wieder im Knirpsenzimmer, wurde mir klar, dass es ein Fehler gewesen war, ihr meine Kunstfertigkeit vorzuführen; ich hätte mich dumm stellen und so tun müssen, dass ich es zwar probierte, aber nicht hinbekam. Und richtig, bald begann sie mich zu schikanieren. Feuerklotz filzte mich auf ihre Anweisung zweimal die Woche und beschlagnahmte alles, was er in meinen Hosentaschen oder im Nachtschränkchen fand. Schon davor, am 9. Mai, hatte sie mich, obwohl ich krank war, in den Karzer stecken lassen, weil ich beim feierlichen Appell anlässlich des Sieges über das faschistische Deutschland im Hof des Kinderheims gehustet hatte. Mirblieb also nichts weiter übrig, als meine Flucht in Richtung Heimat vorzubereiten, die mir schließlich auch gelang, nur einige Zeit später.
Was wir mampften, schlangen, spachtelten
    Essen war das Hauptthema unseres Lebens. Alle wesentlichen Träume der Heimkinder kreisten um Nahrung, besonders im Winter und Frühjahr. In dieser Zeit hätten wir nach den Worten unseres Hinkebeins Mascha alles verschlingen können, was nicht niet- und nagelfest war. Im Sommer konnten wir uns beim Jäten den Bauch mit Grünzeug vollschlagen, immer in Gefahr, Dünnpfiff zu kriegen und bei der Schrecklichen Kapa zu landen.
    Abgefüttert wurden wir im großen allgemeinen Speisesaal, von uns Fressschuppen genannt, im ersten Stock. Immer sechs Jungen saßen an einem Tisch. Darauf standen sechs grüne Blechtassen, in der Mitte eine siebente mit sechs Riegeln Roggenbrot. Zwischen den Tassen lagen sechs Suppenlöffel, das war’s, Teller gab’s nicht, wir löffelten alles aus den Tassen. Das Essen war nicht gerade abwechslungsreich. Wir mampften drei sorten Suppe: Erbsen-, Kohl- und Graupensuppe; Graupensuppe mit sauren Gurken hieß Rassolnik. Nach der Suppe bekamen wir meistens Kascha – Hirse-, Gersten-, seltener Kartoffelbrei. Kartoffelbrei mit Kohl hieß Gemüse. Danach kratzten wir sorgfältig unsere Tassen aus, reinigten sie so für den Nachtisch – blassrosa Mehlpudding mit Fruchtgeschmack oder

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