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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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kasachischem Fladenbrot und schliefen rasch ein. Am Morgen erwachten wir – unser Zug rollte nach Westen.
Die Kinder der Artilleristen
    Die Nächte waren schon kalt. Mitjas Rettung war die geschenkte Fellweste, trotzdem waren wir gegen Morgen tüchtig durchgefroren. Wir mussten uns irgendwo Wolldecken besorgen, zur Not eine für uns beide. In Kurgan, wo wir nach drei Tagen ankamen, stand unser Zug mehrere Tage, und wir wären ums Haar wieder den Polypen in die Hände gefallen. Anfangs arbeiteten wir auf dem Markt, doch nach zwei Tagen ließ das Interesse an unseren Kunststücken nach, und wir gingen auf den Bahnhofsvorplatz. Hier waren viele Militärangehörige, denen unser Repertoire besser gefiel als den Händlern, aberhier war auch die Gefahr größer, von den Bahnpolypen geschnappt zu werden.
    Mit unserm Auftritt hatten wir Erfolg. Der blinde Mitja kam mit seinen Liedern gut an. Meine aus Draht gebogenen Führer wurden aufmerksam betrachtet und von Hand zu Hand weitergegeben. Die drei Lieder über den Führer waren gesungen, das Volk verlangte Zugaben, und da stimmte Mitja ein Klagelied an:

    In dem Tal, im grünen Garten,
    schallt der Schlag der Nachtigall.
    Ich, verlassen in der Fremde,
    bin alleine überall.
    Bin verlassen und vergessen
    schon von Kindesbeinen an,
    keine Eltern, kein Zuhause,
    keiner, der mir helfen kann.
    Mitja sang von sich, so schön, dass vielen Männern Tränen in die Augen traten. Als er zu Ende gesungen hatte, trat ein baumlanger, reckenhafter Mann in Offiziersuniform mit einem großen Stern auf den Schulterklappen zu ihm, hob ihn hoch und gab ihm einen Kuss, unter dem Beifall der Armisten.
    Als wir nach unserm Auftritt gerade die Spenden einsammelten, kamen vom Bahnhof her zwei Milizionäre auf uns zu und fragten, was hier vorgehe. Man antwortete ihnen, nichts Besonderes, Lieder über den Führer würden gesungen.
    »Wo kommen die Bengels her und was haben sie hier zu suchen?«
    »Die Bengels gehören zu uns, sind Kinder des Regiments«, sagte der Mann mit dem großen Stern auf den Schulterklappen. »Da, du siehst ja, der Kleine wurde von den Faschisten verwundet. Sie sind in meiner Obhut.«
    Und er zeigte seine gewichtigen Papiere, worauf die beiden sich verzogen.
    Das war schon das zweite Mal, dass Militärs für uns eintraten. Der Mann war Major der Artillerie, er war mit einem Trupp von Untergebenen und einem Sonderzug militärischer Flachwagen in den Ural kommandiert, um dort neue Selbstfahrlafetten abzuholen. Mitja und ich erzählten ihm von unserm Leben auf Rädern und baten ihn, uns mitzunehmen bis nach Tscheljabinsk, wo wir in einem Kinderheim überwintern wollten, um uns zu kurieren und die Schule zu besuchen. Er war einverstanden und stellte nur eine Bedingung – auf den großen Stationen durften wir nicht den Waggon verlassen.
    Diesmal hatten wir richtig Schwein. Bis Tscheljabinsk war es nicht mehr allzu weit, und vor allem, wir brauchten nicht mehr in leeren Güterwagen zu frieren. Der Major lud uns im Bahnhofsrestaurant zu einem üppigen Mittagessen ein – Borstsch, große Fleischbulette mit Bratkartoffeln und richtiges Kompott aus Dörrobst. Mitja und ich waren schwer beeindruckt, hatten wir doch noch nie an einem weiß gedeckten Tisch von weißen Tellern mit blauem Rand gegessen, mit schweren blanken Löffeln und Gabeln (Gabeln hatten wir überhaupt noch nie benutzt), obendrein in einem Saal mit riesigen Fenstern und Säulen und mit Bildern an den Wänden. Und die Kellnerin, aufmerksam und freundlich lächelnd, brachte uns mehr Kartoffeln, als uns zustanden,die waren in Butter gebraten und schmeckten ganz anders als im Kinderheim. Nach unserm endlosen Herumziehen, immer hungrig und ohne warme Mahlzeit, hatte uns der Major in ein Paradies wohligen Sattseins geführt, das sich mir fürs ganze Leben einprägte.
    Nach dem Essen führte er uns in einen Wagen seines Zugs und übergab uns einem schnauzbärtigen Feldwebel mit dem Befehl, für unsere Reinigung und für saubere Sachen zu sorgen und uns im Abteil der Sergeanten Schlafplätze auf den oberen Pritschen zuzuweisen. Am schwierigsten war es mit der sauberen Wäsche. In das kleinste Soldatenhemd passten wir beide hinein, Mitja und ich, und die Militärunterhose reichte uns bis über den Kopf. Aber was half’s, er befahl uns, je ein Hemd anzuziehen und auf die Pritsche zu klettern, unter die Decke. Am nächsten Tag wolle er sich etwas einfallen lassen. Zum ersten Mal seit einem Monat schliefen wir gewaschen und in

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