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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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gesprochen hatte. Er führte uns durch den Wald bis fast zu den Abstellgleisen. Um die Züge zu erreichen, mussten wir nur noch ein kleines Feld überqueren. Aber vorsichtshalber warteten wir die Dunkelheit ab.
    Von den drei leeren Zügen bestand einer, der längste, aus Güterwaggons, Flach- und Tankwagen und etlichen mit ausgesuchten Lärchenstämmen beladenen Rungenwagen. Mit diesem Zug wollten wir fahren. Er war eindeutig für die Fahrt nach Westen, in den Ural, bestimmt. Im Schutz der Dunkelheit bestiegen Mitja und ich einen der mittleren Waggons, entschlossen, nicht zu schlafen, um es mitzubekommen, falls die Lok an einen anderenZug gekuppelt würde. Aber ich schlief trotzdem ein. Mitja stieß mich an und hieß mich nachsehen, was da vorging, unser Zug sei offenbar getrennt worden. Und richtig, von unserm Zug war ein Drittel, auch unser Waggon, abgekuppelt, und eine kleine Rangierlok zog uns auf ein anderes Gleis. Unser Waggon war der dritte von hinten, wenn man von Ost nach West blickte. Bis zum Morgen blieben wir wach, aus Furcht, in die falsche Richtung zu fahren, aber in der Frühe ging plötzlich ein Krachen durch den Zug – von Westen war eine Lok herangefahren und hatte sich vor unsere Waggons gesetzt. Nach wenigen Minuten fuhr unser neuer Zug los in Richtung Tscheljabinsk. Vor Freude verspeisten wir zwei der im Wald gebackenen Kartoffeln und fielen in den Schlaf der Gerechten.
    Einen Tag und eine Nacht wurden wir im Waggon durchgerüttelt. Mal raste der Zug, mal schlich er, dann wieder blieb er auf kleinen Ausweichstellen stehen und ließ Züge nach Osten vorbeifahren. Tags darauf hielten wir endgültig auf einer ziemlich großen Station, wo es von schlitzäugigen, dunkelhäutigen Menschen wimmelte, die sonderbar gekleidet waren: gestreifte Kittel, spitze Hüte und komische kurze Stiefelchen. Sie redeten in einem für uns unverständlichen Kauderwelsch. In Omsk hatte man Leute in solchen Kitteln Kasachen genannt. Waren wir etwa bei Kasachen gelandet?
    Sie warteten, wie alle Menschen, auf ihre am Leben gebliebenen Söhne, Väter, Angehörigen. Hinter dem Güterbahnhof der Station war auf einem weiträumigen Ödplatz ein richtiges Kasachenlager aufgeschlagen worden: Pferde, Jurten, Zelte. Dort gab es auch einengroßen Basar, wo Wolle, Filz, Leder, Schaffelle, Hammel- und Pferdefleisch und farbiges Tongeschirr feilgeboten wurden. Die bunten Kittel, die bestickten Filzhüte, die Teppiche, auf denen die Ware lag, schufen eine festliche Stimmung.
    Die von der Front oder aus dem Lazarett zurückkehrenden Soldaten wurden von ihren Familien nebst Kindern, Pferden und Hunden empfangen. Man setzte die Soldaten wie Helden auf Pferde und geleitete sie voller Stolz ins Lager. Wir sahen, wie ein junger Mann, dem beide Arme fehlten und dessen Brust in einem Panzer aus Orden und Medaillen steckte, auf einen Schimmel gehoben wurde, dann wurde ihm ein kasachischer Filzhut aufgesetzt und ein rotweißer Gürtel umgelegt, und zwei Aksakale * in gestreiftem Kittel führten das Pferd am Zügel von der Station zum Basarplatz. Dort wurden zu Ehren des Verstümmelten Jagdflinten abgefeuert, unbekannte Instrumente gespielt und Trommeln geschlagen – er hatte sich im Krieg wohl besonders hervorgetan.
    Bei den Kasachen blieben wir vier Tage lang zu Gast, übernachteten in ihren Jurten. Die standen im Kreis auf dem Platz, umstellt von Fuhrwerken. An diese wurden zur Nacht die Pferde gebunden, die Köpfe zur Mitte. Sie bewachten das Lager. Die Kasachen hatten Mitleid mit uns, als sie hörten, dass wir aus dem Norden stammten, aus Leningrad und Nowgorod, und gaben uns Hammelfleisch zu essen.
    »Nowgorod, das ist weit weg!«, sagten sie, »Leningrad, o je, so weit weg.«
    Sie wollten den Blinden bei sich behalten, da er lungenkrank sei, und ihn gesund pflegen. Mitja weigertesich, er hoffte, bald in der Heimat zu sein, bei seiner Oma in Nowgorod. Um seine Lunge während der Reise zu schützen, nähte ihm ein angesehener Alter aus Schaffell eine Weste, und mir gab er ein Stück Fell, auf dem ich schlafen konnte.
    Von den Eisenbahnern erfuhren wir, dass unser Zug in zwei Tagen in Richtung Kurgan abfahren würde. Das passte uns gut. Wenn er nur nicht so lange auf Haltepunkten stand. Am Morgen nahmen Mitja und ich Abschied von unseren freundlichen Gastgebern und stiegen wieder in einen Güterwagen unseres Zuges; hier verteilten wir die zahlreichen Geschenke auf unsere Rucksäcke, ließen es uns wohl sein bei Hammelfleisch, Kumys und

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