Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Erfahrung meiner bisherigen Fluchten kam uns zugute. Wir rannten zu den Gleisen, wo die Güterzüge nach Norden zusammengestellt wurden. Einer davon, bestehend aus ein paar Bauwagen mit Blechschornstein auf dem Dach und zahlreichen Flachwagen, die mit Brückenträgern beladen waren, stand bereits unter Dampf. Das war für uns sehr günstig, denn wir mussten schleunigst aus der Stadt verschwinden. Darum gingen wir am Zug entlang zu den Bauwagen, vielleicht war ja einer leer und offen, doch wir fanden keinen. In zwei der Wagen hörten wir Leute sprechen. Brubbel hielt das Ohr an die Wand und horchte.
»Hör mal«, sagte er, »die reden wie wir …«
»Na und? Alle reden wie wir!«
»Nein, wie im Norden, wie meine Mutter, wie ich, es sind Leute von Archangelsk. Soll ich sie mal anhauen?«
»Nein, Brubbel, warte noch, das ist zu gefährlich. Lass uns vorher auskundschaften, wo wir uns verkriechen können. Wenn wir erst ein Stück weg sind, kannst du in deinem Archangelsker Jargon quackeln. Hier suchen sie uns doch schon.«
Während wir noch redeten, ruckte der Zug an, und uns blieb nichts anderes übrig, als auf einen Flachwagen mit Brückenteilen zu klettern und uns unter den Holzstützenniederzulassen. Kaum saßen wir, da ruckte der Zug nochmals an und fuhr langsam los.
Er fuhr nach Norden, in Richtung Kotlas. In den ersten zwei Stunden saßen Brubbel und ich still und streckten die Nase nicht raus, doch gegen Abend wurde es kalt, und die Angst zu erfrieren zwang uns, zur Nacht ein wärmeres Plätzchen zu suchen. Wir fanden aber nur eine Menge Kiefernspäne, sonst nichts. Die Stützen unter den Brückenteilen waren offenbar erst hier zurechtgehackt worden. Wir scharrten sie zusammen und häuften sie unter das vorderste Stützgerüst. So entstand ein großes Nest, in das wir hineinkrochen. Es schützte uns vor dem Wind, aber nicht vor der Kälte. In der Nacht haben wir so gefroren, dass wir kaum schlafen konnten. Erst gegen Morgen dösten wir ein, als die Sonne uns ein bisschen wärmte. Der Zug fuhr ziemlich schnell, fast ohne zu halten. Als wir aufwachten, aßen wir was und schliefen seelenruhig wieder ein, denn für die Behörden von Kirow waren wir nicht mehr erreichbar.
Geweckt wurden wir von zwei Männern mit Eisenbahnermütze und Arbeitsklamotten.
»Wer seid ihr denn?«, fragten sie. »Wie kommt ihr hierher? Wo wollt ihr hin?«
Der Zug stand auf einem Ausweichgleis in der Nähe eines Flüsschens. Die beiden Männer aus den Bauwagen waren auf einem Kontrollgang, um nachzusehen, ob auf den Flachwagen alles in Ordnung war, und hatten uns Grünschnäbel in dem Nest aus Kiefernspänen entdeckt. Sie sprachen in der Archangelsker Mundart: mit fragender Intonation am Satzende. Brubbel ließ sie in der gleichen Intonation wissen, er sei geboren am Fluss Ustja-Uschjaund fahre zu seiner Mama, der Schwester und dem Brüderchen, sein Papa sei bei Kursk gefallen, für die Fahrkarte habe er kein Geld, und ich, sein Kumpel, sei ganz ohne Vater und Mutter, darum wolle er mich in seinem Dorf unterbringen, wenn die onkels uns nicht wegjagten.
Wir flehten sie an, uns bis Kotlas mitzunehmen und uns erst dort der Miliz zu übergeben, wenn es denn sein müsse. Dann werde Brubbels Mutter ihn abholen kommen aus Bestoshewo, das liege ganz in der Nähe.
»Du stammst also aus Bestoshewo? Unser Techniker, der zweite Natschalnik, der ist aus der Gegend. Da, am Fluss sitzt er und fängt Krebse. Kommt raus aus euerm grässlichen Nest und geht zu ihm.«
Der Techniker kam aus Schangaly, das lag an der Straße von Kotlas nach Welsk. Nach hiesigen Begriffen war das Dorf Bestoshewo nicht weit von der Bahnstation entfernt – nur sechzig Kilometer. Der Mann versprach, den leitenden Ingenieur zu erweichen, dass er uns mitnahm.
Am Abend wurden wir in dem dritten Bauwagen zwischen Ausrüstungen und Werkzeugkisten untergebracht. Außerdem bekamen wir ein paar abgetragene Wattejacken, eine große Schüssel heiße Weizengrütze und Tee. Wenn der Zug hielt, sollten wir nicht die Nase rausstrecken. Brubbels Landsmann teilte uns mit, von Kotlas aus werde die Bautruppe nach Solwytschegodsk gehen, dort werde eine Eisenbahnbrücke gebaut. Wir aber müssten nach Westen Richtung Schangaly – Welsk und uns irgendwem anschließen.
Kurz vor Kotlas schenkten uns die Brückenbauer Trockenproviant– Grütze, Tee, Zucker, Salz – und je eine Wattejacke. Die verwandelten wir in Westen, indem wir die Ärmel abschnitten, damit sie sich besser zusammenrollen
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