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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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abzustoßen, vorwärtszuspringen und im Flug zum kullernden Embryo zu werden. Sie zogen mir eine riesengroße Wattejacke an, stülpten mir eine Pelzmütze mit Ohrenklappen auf den Kopf und bearbeiteten mich mit Fäusten, und ich musste mich wehren. Je schneller ich ihre Schläge parierte, desto mehr lobten sie mich. Sie wollten mir ein schnelles, besser noch ein vorausschauendes Reagieren antrainieren. Nachdem ich viele blaue Flecke davongetragen hatte, wurde ich schließlich schon vor den ersten Schlägen zum wilden Tier. Sie hatten ihr Ziel erreicht – ich reagierte blitzschnell.
    Nach dieser Ausbildung hat mich in meinem späteren Leben niemand mehr schlagen können: Entweder duckte ich mich weg oder ich schlug als Erster zu. Sie hatten mir den Nahkampf der Diebe beigebracht, das heißt, Methoden, wie man sich schützt und zugleich den Angreifer ausschaltet: Der Gegner denkt, er hat einen schon überwältigt und an die Wand gedrängt, doch plötzlich stürzt er unverhofft zu Boden und wird für einige Zeit bewusstlos. Es ist ein uralter Diebstrick – ein Schlag mit dem Ellbogen gegen das Herz und zugleichmit der Faust gegen die Schläfe; diese Möglichkeit hat die Natur so eingerichtet.
    Sie lehrten mich, das Finnenmesser zu gebrauchen: Es wird nach Diebsart in der Rechten gehalten und hinterm Rücken in die Linke geworfen, wenn der Angreifer es einem aus der Hand schlagen will. Sie lehrten mich, jemandem geschickt und unauffällig ein Bein zu stellen, einen mich verfolgenden Polypen oder sonst wen mit einem vorgetäuschten Sturz über mich hinwegzuschleudern, und noch vieles andere. Sie lehrten mich, meine Sachen – Hemden, Jacken, Hosen – so zu falten, dass sie möglichst wenig Platz im Diebsgepäck einnahmen. Sie lehrten mich, Laken, Handtücher, Wäschestücke so zusammenzurollen, dass sie nach dem Entfalten wieder als neu verkauft werden konnten. Der größte Teil der Behältnisse, darunter auch die gestohlenen und aus dem Zug geworfenen Koffer, wurden, da sie Beweisstücke waren, verbrannt oder in einem Versteck zurückgelassen – einem Gebüsch, einem Graben, einer Schlucht. Der Inhalt wurde in Rucksäcke aus unauffälligem Segeltuch umgepackt und in »Bunkern« verstaut oder zu verlässlichen Hehlern gebracht.
Die Arbeitsbedingungen
    Der Beruf des wandernden Eisenbahndiebs machte es erforderlich, nicht nur täglich zu trainieren, sondern auch kalt zu rechnen, Scharfsinn und Beobachtungsgabe zu üben, zu baldowern. Als Erstes mussten die Fahrpläne auswendig gelernt werden. In den Jahren der Stalin-Zeitfuhren die Personenzüge pünktlich, Verspätungen gab es nicht. Zweitens mussten die Diebe genau die geografischen Besonderheiten der Strecken kennen – die Kurven, wo die Züge langsamer fuhren, sowie die Steigungen und Gefälle, wo ebenfalls abgebremst wurde. Sie mussten wissen, zu welcher Tageszeit der eine oder andere Zug welche Gegend passierte. Sie bevorzugten Züge, welche die geografisch günstigen Stellen nachts durchfuhren. Sie beobachteten beim Einsteigen, wer mit was für Gepäck in welchen Waggon stieg, und merkten zwei oder drei Objekte vor, die nach lohnender Beute aussahen. Sie wussten, wann und wo die Schaffner die Fahrkarten kontrollierten. Niemals begannen sie ihre Arbeit gleich nach dem Einsteigen. Sie ließen dem Schaffner und den Reisenden Zeit, zur Ruhe zu kommen, sich hinzulegen, einzuschlafen. Erst dann gingen sie an die Arbeit.
    Zunächst wurde im Vorraum oder im Heizraum am Ende des Zugs abgewartet. Die Diebe besaßen Zugschlüssel aller Typen. Sobald der Zug die Station verlassen hatte und das Tempo beschleunigte, gingen sie nach einer angemessenen Zeit zu den vorgemerkten Waggons, und zwar über die Dächer, um nicht vorzeitig irgendwem aufzufallen. Das nannten sie »über den Krokodilrücken gehen«. Manchmal hatten sie bei diesem Gang Koffer bei sich. Damals gab es die geschlossenen Waggonübergänge mit Lederbalgen wie in den heutigen Zügen noch nicht. Dank ihrer Geschicklichkeit waren die Diebe imstande, blitzschnell aufs Dach zu steigen oder bei völliger Dunkelheit während der Fahrt über Puffer und Kupplungshaken von einem Waggonin den nächsten zu klettern und nebenher die Außentür zu öffnen.
    Auf dem Streckenabschnitt Kaurowka – Muljanka zwischen Swerdlowsk und Molotow drohte die Bande aufzufliegen und verzog sich in ein anderes Gebiet, wo sie schon alles ausgekundschaftet hatte. Ich erinnerte mich, dass sie zwischen Molotow und Kirow drei Hehlerinnen

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