Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
der, nur mit einem Hemdchen bekleidet, ohne Hose auf dem Fußboden herumkrabbelte. Oma Paraskewa nannte ihn Nachkömmling, es war wohl ihr Enkel oder Urenkel. Sie goss uns Tee ein, dabei erzählte sie, dass die Mama des Kleinen heute von Kotlas heimkommen werde und dass sie eine Gelehrte sei, denn sie arbeite im Kolchos als Rechnungsführerin.
Ihre Tochter oder Enkelin kam und hatte Geschenke für das Krabbelsöhnchen mitgebracht, doch die Oma hieß sie, ihm die nicht gleich zu geben, sondern sie zu verstecken.
»Er soll selber danach suchen und um das Spielzeug bitten.«
Doch als das Enkelchen das Spielzeug entdeckte, griff es danach, ohne zu bitten. Die Oma war empört über so viel Dreistigkeit.
»Er war noch nicht ganz rausgefallen aus ihrem Arsch, da hat er schon nach dem Spielzeug gegrapscht«, sagte sie zu uns. »Als ich klein war, hat’s so was nich gegeben. Ohne Erlaubnis durft ich mir nich mal ne Plinse nehmen. Ein Holzscheit war meine Puppe, und auch da musst ichum Erlaubnis fragen. Mit sieben hab ich mir aus Lappen selber meine Maschka genäht und heimlich mit ihr geschmust. Damals hatten die Mädchen drei Wege offen: Heirat, Kloster oder alte Jungfer bei den Eltern. Und heute? Seine Mutter hat ihre Grotte einem hergelaufenen Soldaten hingehalten, der hat ihr auch gleich den Bauch vollgepumpt – mit dem da, aufm Fußboden, da, er ächzt, will aufstehn, hat genug vom Krabbeln. Heutigentags regiert der Antichrist, darum geht alles drunter und drüber – dauernd Kriege und blutige Vergnügen. Die Männer sind alle ausgerottet, da spielen die Weiber verrückt. Den Zugvogel haben sie umschwärmt wie die Fliegen den Honig. Um seinen Arsch sind sie herumgetanzt mit Gelächter und Gekicher. Von dem zugereisten Satan sind drei Mädels trächtig geworden. Fruchtbar war er ja, hat gleich alle drei besamt. Und das Dorf hat sich auch noch gefreut wie verrückt, vergib mir, heilige Paraskewa vom Scheideweg, du Fürsprecherin der Weiber. Drei Männlein sind aus ihnen rausgekrochen, Ersatz für die Gefallenen. Einen davon habt ihr vor euch, seht ihr, da furzt er. Der Zugvogel aber, der hat sie besamt und ist wieder weg wie ein fliegender Drache. So weiß er gar nicht, dass er hier drei Söhne gemacht hat. Und das Erstaunlichste: Die leergebliebenen Mädchen im Dorf sind neidisch auf die Gebärerinnen.«
Bei Oma Paraskewa blieben wir vier Tage. Brot und Salz haben wir uns mit Männerarbeiten verdient: den verlotterten Hof und den verwahrlosten Brunnen gesäubert und Holz gehackt für den russischen Ofen. Natürlich war ich es, der mit dem Kübel runtergelassen wurde in den Brunnen. Eine Menge Schlamm und allen möglichenMüll hab ich rausgeholt. Der Brunnen war zwanzig Jahre nicht gesäubert worden. Bei der Arbeit da unten hab ich jämmerlich gefroren, und damit ich nicht krank wurde, hat Paraskewa mich gezwungen, Tee mit Wodka zu trinken. So lernte ich notgedrungen die berühmte russische »Arznei« kennen.
Am fünften Tag sind Brubbel und ich wieder die Bahngleise entlanggestapft, fast den ganzen Tag. An unserm Haltepunkt hatte kein Zug angehalten. Gegen Nacht erreichten wir Uwtjuga. Hier war schon alles still. Wir schliefen auf Tannenzweigen unter einem Stapel Schneezäune. Vor der Kälte schützten uns die Wattejacken, die uns die Brückenbauer geschenkt hatten. Am Morgen fuhren wir mit dem nächsten Güterzug nach Schangaly, Hauptstadt der Region Ustjansk. Schangaly blieb uns in Erinnerung, weil dort Aufrufe und Losungen hingen wie »Männer und Frauen von Schangaly! Seid wachsam!« und »Mehre den Ruhm der Heimat – wie die Saat, so die Ernte!«
»Trinkt Bier aus der Schüssel und wischt euch den Rüssel«
Von der Station Schangaly nach Bestoshewo sind es mindestens sechzig Kilometer, die legten wir auf unterschiedliche Weise zurück: mit Autos, Traktoren, Fuhrwerken, zu Fuß. Den Fluss Ustja überquerten wir mehrmals mit alten klapprigen Fähren.
Die Dörfer an unserm Weg hatten nach dem Krieg nur noch wenige Einwohner, die ernährten sich von Holzeinschlag, Fischfang und kärglichem Gemüseanbau. Dasraue Klima und die kargen Böden zwangen die Leute, sich in Artels zusammenzutun. Im Gegensatz zu den Murmeltieren vom Ural lebten sie hier ärmlich, aber in freundschaftlichem Miteinander. Alles war von der Forstwirtschaft geprägt. Vielleicht deshalb ging es in den Dörfern der Region etwas freier zu, verglichen mit den Kolchos- und Sowchossiedlungen.
Die Bewohner der unteren Dörfer erzählten, auf dem
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