Sechs Richtige und eine Falsche: Roman (German Edition)
tun?
Jetzt formulierte ich es schon selbst so, als hätte ich gewonnen. Ich zog mir eine Hose und ein T-Shirt über, flitzte auf den Balkon und suchte die Straße nach einem roten Mercedes ab, der tatsächlichdirekt vor der Haustür parkte. Um mich voll und ganz von der Richtigkeit der Angaben zu überzeugen, rannte ich zum Briefkasten und entnahm ihm einen dicken Brief, in dem ich einen Schlüssel ertastete. Im Hinaufgehen riss ich den Umschlag auf und überflog die Zeilen. Der Schwülstigkeit nach musste Simon Ratjen höchstselbst das Anschreiben verfasst haben.
»Sollten Sie sich dafür entscheiden, Ihr Geld in ein modernes, fortschrittliches Auto zu investieren, würden wir Ihnen gerne mit unserem Know-how zur Seite stehen, blablabla.« Die Verbrecher mussten tatsächlich den Artikel über mich in der Zeitung gelesen und mich stante pede als solvente Kundin in ihren Verteiler aufgenommen haben. Selbstredend würde ich diesen Klassewagen in zehn Jahren nicht abbezahlen können, aber warum keine Probefahrt darin machen? Damit verpflichtete ich mich ja wohl zu nichts. Selbst schuld, wenn sie sich von einer Ente in der Zeitung übers Ohr hauen ließen. Zweimal musste ich mich kneifen, um diese idiotische Geschichte zu glauben.
Ich betrachtete mich prüfend im Spiegel und überlegte, ob ich mich für meine erste Ausfahrt besonders dressen musste, entschied mich aber dagegen. Danach ging ich erneut nach unten und ließ dabei skeptisch den Schlüssel zwischen zwei Fingern baumeln. Sollte ich wirklich das Angebot annehmen und eine kleine Spritztour machen, oder gehörte sich das nicht? Schließlich hielten sie mich für jemanden, der ich nicht war.
»Carl, sieh mal, was für eine Eroberung ich gemacht habe.« Ich stürzte ins »Würz«, um mein Erlebnis mit dem Mann zu teilen, der mir am nächsten stand.
»Hat es endlich geklappt?«
»Zwar nicht fürs Leben, aber immerhin mal für die nächsten drei Tage.« Ich zog Carl hinter seinem Tresen hervor. Er war gerade damit beschäftigt, Zimt aus einem großen Sack in kleine Tütchen abzufüllen.
»Du solltest es hiermit versuchen. Zimt im Kakao oder in Keksen,das wirkt Wunder. Dann bleibt er vielleicht länger als nur drei Tage. Gib ihm Zimt!« Auf gar keinen Fall würde ich Zimt in den Tank kippen.
»Kein Mann, ein Mercedes!«, erklärte ich ihm und schob ihn auf die Straße.
»Wow. Gehört der dir?« Ich schüttelte den Kopf.
»Ein Probeauto. Gratis. Irgendwie spielen alle verrückt wegen dieser Lottogeschichte. Leute, die ich nicht kenne, sind wahnsinnig freundlich zu mir. Und Leute, die ich kenne, sprechen kein Wort mehr mit mir.« Ich schilderte Carl in groben Zügen, was sich mit Verena zugetragen hatte. Die Worte Goldfisch, Rattan und Max ließ ich dezent unter den Tisch fallen.
»Aber wenn du doch keine zwanzig Euro dabeihattest?« Carl war der Einzige, der noch logisch dachte.
»Sag ich ja. Aber erklär das mal einer, die denkt, du würdest seit Neuestem ständig eine Rolle Fünfhundert-Euro-Scheine in der Hosentasche herumtragen.«
»Und was machst du jetzt mit dem Wagen?«
Ich zuckte mit den Schultern und fragte ihn, was er täte.
»Also, ich finde, das geht nicht. Du kannst dich da nicht einfach so reinsetzen und in der Gegend herumkutschieren.« Carls ungewohnt brüske Art überraschte mich. Mir war nicht klar gewesen, dass er so ein Prinzipienreiter war. Im Grunde hatte er ja recht, trotzdem war ich enttäuscht und ließ den Schlüssel deprimiert gegen mein Bein klimpern. »Das geht wirklich nicht!«, wiederholte er. »Zumindest nicht ohne Beifahrer!« Er grinste spitzbübisch, und auch ich lachte erleichtert auf.
»Und ich dachte schon …«
Carl machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich hab zwar keinen Nacken mehr, aber dafür umso mehr Schalk!«
Der Spruch war gigantisch, aber geklaut. Ich meinte, ihn schon einmal vom ehemaligen HSV-Star Charly Dörfel gehört zu haben.
»Nimmst du mich mit?« Carl wartete die Antwort gar nicht ab, sondern sprintete schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, zur Beifahrertür. Ein kurzer Flashback rief mir ins Gedächtnis, dass sich mein Leben in den vergangenen Tagen mehr in Autos als auf festem Boden abgespielt hatte. Daniel, Herr Schneider, Markus Röck. Immerhin war dies kein Cabrio.
Carl und ich ließen uns in gemütliche schwarze Ledersitze plumpsen. Ich begutachtete das Auto, in dem es roch, als seien eben erst die Achsen verlötet und die Sitze bezogen worden. Der Kilometerstand betrug
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