Sechs, Sieben, Cache! | Ein Hildesheim-Krimi
heftiges Gewitter am Himmel herauf. Furchtbar heulte der Sturm, und grelle Blitze wechselten sich mit krachenden Donnerschlägen ab. Doch der Jüngling wich trotz des Unwetters nicht von seinem Platze, denn noch nie hatte Isabelle ihn vergebens warten lassen. Heute jedoch schien alles umsonst zu sein. Längst war die festgesetzte Stunde verstrichen. Da packte den Ritter Angst und Sorge. Sollte sie vom Blitz getötet oder vom Vater ertappt und eingekerkert worden sein? Zum ersten Mal wurde er sich der Aussichtslosigkeit seiner Liebe bewusst, und in seiner Verzweiflung stieß er sich einen Dolch ins Herz. Echt, so blöd waren die damals. Kaum zu fassen.“
„Och, jetzt haben Sie die Stimmung verdorben. Wie geht es weiter? Findet sie ihn?“
„Ich bitte vielmals um Vergebung. Also, wo waren wir, ach ja. Immer noch rollte der Donner, zuckten die Blitze. Da nahte Isabelle, allen Gefahren trotzend, sie fand den Geliebten in seinem Blute am Brunnen liegend. Jammernd rang sie die Hände, stürzte sich auf den Leichnam und rief laut: „Oh, ich träume; erwache, mein Trauter, erwache!“ Als sie die Wahrheit begriff, erhob sie sich plötzlich, zog den Dolch aus der blutenden Wunde und versenkte ihn in die eigene Brust. Nun verging der Donner, die Sturmböen schwiegen, nur am fernen Horizont wetterte es noch. Tiefe Stille waltete ringsum, und der Duft der Lindenblüten umwehte die für immer vereinten Toten. So fand sie ein Knappe vom Truenberge, der ausgesandt war, die vermisste Isabelle zu suchen. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Ach, nee, sind ja beide tot, wie blöd. Kein Happy End.“
Corinna blickte ihn vorwurfsvoll an. „Keine Faxen bitte. Meinen Sie, diese Sage dürfen wir verwenden? Eberholzen liegt doch gleich hinter Abbensen. Wir könnten uns sozusagen eingemeinden.“ Sie lachte. „Oder wir bauen noch ein Türmchen, von dessen Zinnen aus man auf Eberholzen blicken kann. Isabelle, lass dein Haar herunter.“
„Hinter Abbensen?“ Fitz schüttelte den Kopf. „Westlich, ja.“ Er stand auf und ging zu einem der Regale. Er strich mit dem Zeigefinger an einer Buchreihe entlang und zog ein grün eingebundenes heraus. „Das ist eine Sammlung aller Sagen aus dem Landkreis Hildesheim. Ich leihe es Ihnen, und Sie suchen sich das Passende heraus. Hinten ist ein Register der Ortsnamen. Da finden sie problemlos alles, was man sich so rund um Abbensen erzählt hat.“
Corinna nahm das Buch und blätterte es durch. Es roch leicht muffig.
8
Alfeld, Montag, der 5.9.2011
Wie so oft ließ Markus Lisa fahren. Er hing der Überzeugung an, dass es für sie als Zugereiste einfacher war, sich hier zurechtzufinden, wenn sie selbst hinter dem Steuer saß. Er, als Einheimischer, wies ihr den Weg und erklärte ihr gleichzeitig Sehenswürdigkeiten und Bräuche. Oft genug erzählte er auch von alten Fällen, die sich dort ereignet hatten, wo sie gerade vorbeifuhren, oder er erinnerte sich an Freunde und Bekannte, die er schon ewig nicht mehr gesehen hatte. Er schien Gott und die Welt zu kennen.
Ergab sich ein Problem oder eine Frage, fiel Markus jedes Mal jemand ein, den er fragen konnte. Trotzdem waren seine Geschichten nicht besonders interessant, da Lisa die meisten Leute nicht kannte. Zudem gab es da ein paar Straßen, die sie schon ziemlich oft entlanggefahren waren.
Doch meistens machte es Lisa nichts aus. Sie fuhr gern Auto, und Markus’ Anweisungen kamen immer rechtzeitig und eindeutig. Heute allerdings hätte sie es vorgezogen, wenn er gefahren wäre. Dann redete er nämlich deutlich weniger.
Lisa ahnte bereits, worüber er sprechen würde, und sie hatte nicht die geringste Lust darauf, über Markus’ Mutter zu reden. Zweimal hatte er das Thema heute schon angeschnitten, doch sie hatte ihn jedes Mal erfolgreich davon abgelenkt.
Kaum hatte sie den Schlüssel herumgedreht, sagte Markus: „Meine Mutter ist die Treppe heruntergefallen. Oberschenkelhalsbruch. Ich musste sie ins Krankenhaus bringen.“
Lisa erschrak. Sie hatte mit einer seiner üblichen Beschwerden über ihre Sturheit gerechnet. „Oh, das tut mir leid. Wie ist es passiert?“
„Ich weiß es nicht genau. Wir waren beide nach den Tagesthemen ins Bett gegangen. Sie muss wohl etwas auf dem Hof gehört haben und wollte nachschauen gehen. Jedenfalls ist sie die letzten drei oder vier Stufen heruntergefallen.“
Lisa kannte die steile Treppe, die in dem alten Bauernhaus, das die beiden bewohnten, nach oben führte. „Welch ein
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