SECHS
passiert", sagte sie einfach und schämte sich noch im gleichen Moment für ihre Kaltherzigkeit. Doch sie konnte nicht anders. Nicht jetzt.
„Das ist es", antwortete er bedrückt. Die Botschaft war angekommen. Er behielt seine Hand jetzt bei sich.
Betretenes Schweigen füllte den Raum. Ben stand regungslos, mit vor der Hüfte gefalteten Händen da und wartete. Er fühlte sich auf einmal fehl am Platz.
Nach zwei Minuten durchbrach er die Stille.
„Rede mit ihr.“
„Was?“, fragte sie verwirrt und drehte sich wieder zu ihm um.
„Ich sagte: Rede mit ihr.“
„Aber wie ... sie kann mich nicht hören.“
„Vielleicht doch.“
Sie schüttelte den Kopf.
Natürlich wusste er nicht wirklich, ob Anna dazu in der Lage war. Aber darum ging es auch nicht.
„Was schadet es? Versuch's.“
Corinna dachte nach. Natürlich hatte sie das Bedürfnis mit Anna zu reden. Sie wollte ihr so viel sagen - jedoch nicht vor Ben.
Und gerade so, als habe er ihre Gedanken erraten, sagte er dann: „Ich lasse dich alleine, okay? Ich warte draußen.“
Sie nickte dankbar und erleichtert.
Als Ben den Raum verlassen hatte, saß sie zunächst einige Minuten einfach schweigend da. Dann aber brach alles aus ihr heraus. Sie weinte, strich Anna mit zitternder Hand durchs Haar, über die Wangen, über den Arm.
Und sie redete mit ihrer Schwester. Sie redete und redete.
Ein unentwegter Strom aus Gefühlen und Erinnerungen ergoss sich über die Schlafende. Sie versicherte Anna, wie sehr sie geliebt werde, dass sie ihr immer eine gute Ratgeberin gewesen sei, sie ihre große Schwester brauche, jetzt und in Zukunft - ganz gleich, was zwischen ihnen passiert war. Und wenn Anna ginge, ginge auch ein Teil von ihr.
So ging das noch fünf Minuten weiter, bis Corinna sich schließlich leer und erschöpft fühlte. Doch in die Erschöpfung mischte sich auch ein anderes Gefühl: das der Erleichterung.
Was Corinna die ganze Zeit über nicht bemerkte, war, dass die Sensoren des EKG davon kündeten, dass sie gehört wurde.
-28-
Frauke Zanner hatte vor dem anstehenden Schichtwechsel noch einige Untersuchungen angekündigt, so dass Corinna und Ben gezwungen waren, sich von Anna zu verabschieden.
Sie versprachen wiederzukommen. Morgen.
Corinna wollte jetzt nicht alleine sein. Im Hinausgehen schlug sie Ben daher vor, sie könnten etwas trinken gehen, um etwas Zerstreuung zu finden. Ohne zu zögern, sagte Ben zu.
Ben dirigierte Corinna zu einem in der Nähe seiner Wohnung liegenden Café und lud während der Fahrt sämtliche Kommilitonen aus. Ihm war ohnehin nicht mehr nach Feiern zumute.
Im Café war es laut wie in einer Bahnhofshalle und hatte zumindest diesbezüglich wenig mit einem beschaulichen zwanziger Jahre Retro-Café zu tun, als das es sich verkaufen wollte. Das Stimmengewirr um sie herum störte sie aber nicht, denn es zeugte von Leben. Und ein bisschen Leben war etwas, das sie beide jetzt wohl ganz gut gebrauchen konnten.
Sie unterhielten sich angeregt über Dies und Das. Corinna erzählte ihm, dass sie Maskenbildnerin und Visagistin sei. Sie berichtete davon, dass es auf Modeschauen grundsätzlich hektisch zuginge, oft nur wenige Minuten Zeit blieben, um die Haare eines Models wieder zu richten oder es umzuschminken. Arbeite sie für Fotoshootings, oder, wenn auch seltener, an Film-Sets, habe sie bedeutend mehr Luft. Ben lauschte fasziniert. Er unterbrach sie nicht ein einziges Mal.
Der Smalltalk förderte auch eine Menge Gemeinsamkeiten zutage. So etwa die Liebe zur Literatur, die zur Musik, eine gemeinsame Weltanschauung und, nicht zuletzt, zu kleine Kniescheiben. Ein Detail, das beide zum Lachen brachte. Irgendwann dann aber kamen sie auf andere, ernstere Dinge zu sprechen.
„Was ist mit deiner Familie?“, fragte Ben.
„Was meinst du?“
„Waren sie schon da?“
Corinna schaute mit glasigem Blick auf den Tisch und schob ihr Wasserglas langsam hin und her.
„Nein. Das werden sie wohl auch nicht.“
Ben hob verwundert die Augenbrauen.
„Seid ihr zerstritten?“, fragte er.
Corinna schüttelte den Kopf.
„Unsere Eltern ... sie sind tot.“
Bevor Ben, wie jeder, auf die Idee kam sich peinlich berührt zu äußern, fuhr sie fort.
„Sie sind vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“
Ben sah ihr an, dass sie gegen die Tränen kämpfte. Er ahnte, dass der drohende Verlust sie jetzt umso mehr in Panik versetzen musste. Und sein eigenes Handeln, sich als der Sohn toter Eltern auszugeben, kam ihm
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