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SECHS

SECHS

Titel: SECHS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niels Gerhardt
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gegessen hatten. Und schließlich wurde ihr bewusst, dass sie den Kindern, die ihren Vater ja noch nicht gesehen hatten, eine Erklärung schuldig war. Davor hatte sie Angst.
    „Was soll ich den Kindern sagen?“, fragte sie.
    Frauke hatte diese Frage schon so oft gehört, dass sie für die Antwort auch nicht lange zu überlegen brauchte.
    „Die Wahrheit. Bereiten Sie die beiden auf das vor, was sie hier sehen werden. Das ist zunächst einmal das Wichtigste. Für Kinder ist der Anblick von Intensivmedizin immer eine große emotionale Belastung. Je ehrlicher man sie darauf vorbereitet, desto geringer sind die Konsequenzen für die kleinen Seelen.“
    „Hierauf kann einen niemand, absolut niemand vorbereiten", entgegnete sie bitter.
    Bevor sich Melanie zum Gehen wandte, blickte sie noch einmal in das Gesicht ihres Mannes. Ihre Augen wanderten über jedes ihr so bekannte und geliebte Detail. Über seine Grübchen, die sie mit ihren Fingerkuppen schon so viele Male nachgezeichnet, seine Lippen, die sie so oft geküsst, seine Wangen, die sie so oft gestreichelt hatte und seine Lider, die jetzt seine Augen verbargen. Dort verweilte sie einen Moment verwundert.
    Seine Wimpern glänzten.
    Unmöglich. Du siehst, was du sehen willst , dachte sie.
    „Bis morgen, Liebster", hauchte Melanie.
    Dann ging sie davon.

-26-
     
    Der Lichtfleck wurde kleiner, verblasste und erlosch schließlich ganz.
    Nein! Geh nicht! Bleib hier!, schrie Frank verzweifelt nach oben.
    Zurück blieb nur ein monotones Ping ... Ping ... Ping ...
    Es hörte sich an, wie die Schallwellen eines Sonars, die durch die Weiten des Atlantiks geistern.
    Was aber da in Franks Geist widerhallte, war nur das Geräusch des EKG, das in den Tiefen seines Körpers nach Leben lauschte.
    Dann, mit einem Mal, befand er sich wieder außerhalb seines Körpers. Er sah sich langsam hin- und herwiegen, wie Weidenzweige im Wind. Seine Augen waren offen, starr nach oben gerichtet.
    Sekunden, Minuten, Stunden, vielleicht sogar Tage vergingen, ohne einen einzigen Schlag seiner Lider. Zeit war hier weder messbar, noch fühlbar, ohne jede Bedeutung.
    Irgendwann wurde es eisig kalt. Er fror - oder wenigstens nahm er das an. Sein Körper erstarrte mit einem Ruck in der Schwerelosigkeit. Er sah kalte Luft aus seinem Mund strömen, dann flach nach allen Seiten kondensieren, so als ob er direkt gegen eine Glasscheibe atme.
    Dann fühlte er etwas.
    In dem Universum, in dem es nichts gab außer ihm selbst und die Finsternis, spürte er nun eine Präsenz. Sie näherte sich, und als sie ihn erreicht hatte, ergoss sie sich wie eiskaltes Quell-Wasser in seinen Geist. Und sie hörte nicht auf einzusickern, gerade so, als wolle sie ihn ersticken.
    Ist das der Tod?
    1223383945498 , kam es hallend zur Antwort.
    Das war nicht seine Stimme. Es war nicht einmal eine Stimme. Es fühlte sich an wie ein Gedanke, eingepflanzt in sein Hirn.
    Wer ist da?
    1223383945498
    Als Nächstes erklang ein Dröhnen und er wurde wieder in seinen Körper gezogen. Er kam sich vor wie ein winziges Staubkorn, das durch einen Tunnel jagt.
    Dunkelheit.
    Aus der Finsternis schälte sich im nächsten Moment das Gesicht einer Frau. Eine Frau, die mit vor Panik geweiteten Augen, einen stummen Schrei auf den Lippen, hinter dem Steuer eines Wagens saß und direkt auf ihn zuhielt.
    Erneut wurde er aus seinem Körper gezogen und er konnte sich wieder von oben betrachten.
    Doch eines war jetzt anders. Seine Augen waren geschlossen und das Gefühl der fremden Präsenz war verschwunden. Er war wieder alleine. Nicht tot, nicht lebendig. Irgendwo dazwischen.

-27-
     
    Zum Zeitpunkt, da Melanie gerade die Intensivstation verließ, befanden sich Ben und Corinna am Bett von Anna. Ben hatte sich die ganze Zeit taktvoll im Hintergrund gehalten, während Corinna auf einem Besucherstuhl saß, leise weinte und Anna unablässig streichelte. Das Bild, das sich den beiden bot, unterschied sich nicht viel von dem, das noch wenige Minuten zuvor so grauenhaft auf Melanie gewirkt hatte.
    Auch Annas zerschmetterte Arme und Beine wurden von Fixateuren zusammengehalten. Sensoren überwachten ihr Leben. Kabel schickten Herzrate, Puls, Blutdruck, Körpertemperatur und Sauerstoffgehalt im Blut zum Überwachungsmonitor, auf dem die Ergebnisse der Messungen in grünen, roten, türkisen Zahlen und Kurven dargestellt wurden. Schläuche sorgten für den Zufluss von Medikamenten und Drainagen für den Abfluss von Körperflüssigkeiten.
    Die Situation war ernst.

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