SECHS
Anna hatte sich schwerwiegende innere und äußere Verletzungen zugezogen. Der Blutverlust war dadurch enorm gewesen und um diesen zu kompensieren, hatte man einiges an Blut-Konserven verbraucht.
Ihr Gesicht war mit größeren und kleineren Schnittverletzungen übersät und trotzdem, dass Anna angeschnallt gewesen war hatte der Gurt nicht verhindern können, dass sie einen schweren Nasenbeinbruch erlitten und auch zwei Zähne eingebüßt hatte. Die blau-violetten Hämatome unter den Augen waren da noch die kleineren der offensichtlichen Verletzungen. Wie die Meisten auf dieser Station hatte Anna ebenfalls noch einen langen Weg vor sich, bis sie wieder vollständig genesen sein würde.
Doch davon ahnte Anna nichts. Sie schwebte, ebenso wie Frank, in den schwarzen Abgründen eines künstlichen Komas.
„Ich liebe sie so. Sie ist immer ein Vorbild für mich gewesen", flüsterte Corinna mit gesenktem Kopf und ohne sich umzudrehen.
Das Schweigen war gebrochen.
„Ihre Schwester liebt Sie auch und das wird ihr die Kraft geben, das alles durchzustehen", sagte Ben. Er hoffte, ihr damit Mut zu machen.
„Corinna ...“, sagte sie noch immer leise.
Ben verstand nicht.
„Wie ...?“
Sie drehte sich. Ihre Augen waren gerötet.
„Ich bin Corinna.“
„Nennen Sie ... ich bin Ben.“
Sie nickte und wandte sich dann erneut zu ihrer Schwester um.
„Glauben Sie ... glaubst du, sie wird wieder ganz gesund?“
„Ganz bestimmt.“
Er hörte sie wieder leise vor sich hin weinen. Er überlegte, was er tun konnte, um sie zu trösten. Ihre Auseinandersetzung hallte noch etwas nach, aber nicht so sehr, dass ihn der Schmerz, der Corinna quälte, kalt ließ.
Er trat leise von hinten an sie heran und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Er konnte ihr Gesicht zwar nicht sehen und damit auch nicht einschätzen, ob es ihr angenehm war, aber ihr Körper zeigte keinerlei Abwehr. Sie gestattete ihm die Berührung. Und so zog er seine Hand nicht zurück.
Corinna war froh über diese warme Geste der Nähe. Sie war im Moment so durcheinander wie selten zuvor in ihrem Leben. Ihr Inneres schien vor Liebe zu ihrer Schwester zu verbrennen, gleichzeitig aber durch die nagende Ungewissheit zu gefrieren. Es war ein Kampf, wie der zwischen Feuer und Eis.
Deshalb würde sie sich von ihm sogar in den Arm nehmen lassen, nur, um der sich ausweitenden Kühle noch mehr entgegensetzen zu können. Zudem kam, dass Ben wahrscheinlich der Letzte gewesen war, der Anna berührt hatte, bevor das alles passiert war. Und ihn zu berühren, von ihm berührt zu werden, war darum eine tröstliche Verbindung zu ihrer Schwester.
Doch all das verriet sie ihm natürlich nicht. Denn auch wenn sie beide sich jetzt duzten und sie die Situation in gewisser Weise verband, so war und blieb Ben immer noch ein Fremder.
Über Corinnas Kopf hinweg, musterte er das zerschundene Gesicht der Schlafenden.
„Wir müssen einfach abwarten. Sie wird sich erholen", sagte er.
„Herrgott! Wie kann ich einfach abwarten? Ich muss doch etwas für sie tun?“
„Das Beste was wir ... was du tun kannst, ist für sie da zu sein. Den Rest erledigen die Ärzte.“ Mit seiner Hand, die immer noch auf ihrer Schulter ruhte, drückte er bestärkend zu.
„Ich komme mir ebenso hilflos vor. Ich mache mir Vorwürfe", flüsterte er leise - mehr zu sich selbst, als für Corinnas Ohren bestimmt. Doch seine Worte waren ihr nicht entgangen. Sie wirbelte so heftig herum, dass sie den Stuhl unter sich mitriss und seine Hand von ihrer Schulter rutschte. Von den Wänden hallte das Schaben der Stuhlbeine.
„Warum? Wieso Vorwürfe?“, ihre Stimme überschlug sich, war wieder durchsetzt von ihrer alten Angriffslust.
„Hast du mir etwas verschwiegen? Hast du doch was damit zu tun?“
Ben warf sowohl abwehrend als auch beschwichtigend die Hände nach oben.
„Nein! Nein! Du verstehst nicht ...“
„So, ist das so?“, entgegnete sie scharf.
„Ich mache mir Vorwürfe, weil ich Anna geholfen habe. Hätte ich sie ignoriert, dann wäre all das vermutlich nicht passiert. Das meine ich!“
Corinna entspannte sich. Ihr Körper nahm wieder die kraftlose Haltung an, mit der sie schon die ganze Zeit auf dem Stuhl gesessen hatte.
Sie nickte.
Unter anderen Umständen hätte sie das, was er für seine Schwester getan hatte, als die Hilfe eines echten Gentlemans gewertet. Aber das, was er da sagte, ließ sich nicht von der Hand weisen. Und so verweigerte sie ihm die Absolution.
„Es ist
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