SECHS
Mann lebt.“
Melanie dachte einen kurzen Moment darüber nach.
„Es wäre möglich. Aber es kann genauso gut sein, dass die Polizei ...“
„... die richtige Nummer gewählt hat“, ergänzte Corinna.
„Ja.“
Corinna schwieg. Dann aber sagte sie:
„Das hieße aber dann, dass Anna Ihren Mann nicht angefahren hat. Aber wer dann? Und wen hat Anna überfahren?“
In Melanie erwachten die Bilder des Morgens. Wie ein Stummfilm aus längst vergangenen Tagen, jedoch in bestechender Qualität. Als ihr der Augenblick in den Sinn kam, da sie aus dem Fenster geblickt und das verunfallte Auto gesehen hatte, riss die Erinnerung ab. Melanie schaute Corinna fragend an.
„Was für einen Wagen fährt Ihre Schwester?“
„Einen Japaner. Nissan.“
„Davon gibt es doch viele Modelle, oder?“
Corinna überlegte kurz.
„Ich glaube, es ist so ein kleiner, roter Micra.“
Jetzt plötzlich wusste Melanie, was nicht gepasst hatte. Frau Liebermann hatte schon im Café von einem Kleinwagen gesprochen. Auch wenn sie nicht viel Ahnung von Autos hatte und schon gar nicht in der Lage war, einen Wagen auf die Schnelle zu identifizieren, wusste sie doch eines: Das Auto, das sie heute Morgen gesehen hatte, war ein großes gewesen. Ein Jeep oder etwas Ähnliches. Selbst in der schummrigen Beleuchtung der Straßenlaterne war das deutlich zu erkennen gewesen. Und überdies meinte sie sich erinnern zu können, dass es keinesfalls rot gewesen war.
„Ich glaube nicht, dass ihre Schwester mit dem Unfall meines Mannes irgendetwas zu tun hat“, sagte sie dann.
Corinna legte die Stirn in Falten.
„Wie können Sie das wissen?“
„Ganz einfach. Ich habe den Unfall gesehen. Das Auto war kein Kleinwagen.“
„Moment! Sie haben den Unfall gesehen?“
„Naja, nein. Nicht wirklich, aber gehört und danach das Auto gesehen. Jedenfalls ungefähr. Es war dunkel", antwortete sie mit belegter Stimme. Einen Moment fragte sich Melanie, welcher der einzelnen Schläge vom Aufprall ihres Mannes gekündet hatte. Sie biss sich sofort auf die Lippe.
Corinnas Augen blitzten jetzt wütend auf.
„Und warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?“
„Woher sollte ich denn wissen, welches Auto Ihre Schwester fährt?“, kam es von Melanie zornig zurück.
Corinna schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, im Café erwähnte ich das.“
„Nur, dass es ein Kleinwagen war. Da habe ich das aber nicht wahrgenommen.“
Corinna fasste sich mit spitzen Fingern an die Schläfen, massierte sie, ganz so, als ob sie gerade einen Migräneanfall erleide.
„Okay ... egal ... es tut mir leid.“
„Schon in Ordnung", antwortete Melanie.
Beide Frauen schwiegen einen Moment. In dieser kurzen Pause stieg in Corinna ein anderer Gedanke auf.
„Sind Sie sich sicher, dass der Unfall, den Sie gesehen haben ...“, sie atmete tief ein, „... überhaupt der Ihres Mannes war?“
In Melanies Gesicht zeichnete sich Überraschung ab. Diese Frage hatte sie sich noch überhaupt nicht gestellt. In der Tat war es nicht abwegig, einen ganz anderen Unfall beobachtet zu haben. Dagegen sprach aber, dass sie die Geräusche des Crashs gehörte hatte, kurz, nachdem Frank das Haus verlassen hatte. Wie weit konnte er gekommen sein? Die Antwort lautete: nicht sehr weit. Es musste demnach in der Nähe geschehen sein. Und die Wahrscheinlichkeit dafür, dass gleich zwei Unfälle unweit ihres Hauses stattgefunden hatten, noch dazu zur gleichen oder annähernd zur gleichen Zeit, hielt sie für verschwindend gering.
In jedem Fall waren beide Frauen nun reichlich verwirrt. Sie beschlossen sich endlich Klarheit zu verschaffen, nachzuholen, was sie in der ersten Aufregung versäumt hatten. Sie mussten herausfinden, wer Schuldiger und wer Opfer war, ob sie es mit einem vertauschten Fall zu tun hatten oder nicht. Sie wollten wissen, ob ein und welches Menschenleben vor Annas Motorhaube geendet war oder nicht. Die Frage, wer für Franks Zustand die Verantwortung trug, brannte vor allem Melanie unter den Nägeln.
In dem Moment, da sie die Tür hinter sich schlossen, zuckten Franks Augenlider. Doch dieses Mal schlug das EKG keinen Alarm. Die Herzfrequenz war unauffällig, gleichmäßig und ruhig.
-39-
Melanie und Corinna standen vor der Pforte des Krankenhauses. Mittlerweile war es dunkel und deutlich kühler geworden. Der plötzliche Temperaturwechsel ließ ihre Körper zittern, trotz der langen Mäntel, die sie trugen. Corinna, die vor dem alles entscheidenden Anruf nach einer
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