Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SECHS

SECHS

Titel: SECHS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niels Gerhardt
Vom Netzwerk:
fotografiert, vermessen, gewogen und sonstige ihr eigene Merkmale zu Protokoll gegeben. Am Ende wurde sie übergangsweise im Kühlraum der Gerichtsmedizin untergebracht und harrte darauf, ausgeweidet zu werden.
    Trotz der Erwartung in einer Kühlkammer zu enden, hatte sie sich das zu Lebzeiten sicher ganz anders vorgestellt.

-35-
     
    Die Tür zu Franks Zimmer schwang auf. Melanie trat einen Schritt in den Raum und es war, wie sie erwartet hatte. Sie konnte ihn durch alle Fremdgerüche hindurch riechen. Hoffnung keimte auf. Ein schneller Blick verriet ihr, dass das Bett belegt war. Ob sich allerdings wirklich um ihren Mann handelte, das konnte sie nicht erkennen. Zu viele Apparate verhinderten die freie Sicht vom Eingang aus, und ansonsten war der Patient zugedeckt. Ein weiterer Schritt, dann noch einer und je näher sie dem Bett kam, desto heftiger schlug ihr Herz.
    Eine Szene aus der Vergangenheit kam ihr ins Gedächtnis. Sie erinnerte sich an einen Tag im Frühling, als sie mit ihren Eltern das Landesmuseum in Darmstadt besucht hatte. Dort ausgestellt war das riesenhafte Skelett eines Mastodon, das seinen Besucher sofort zwischen den gigantischen Stoßzähnen in Empfang nahm, kaum dass er die letzte Stufe genommen hatte. Aber dort zu stehen war nicht das Schlimmste. Es war der Weg dorthin.
    Mit jedem Schritt, den sie die Treppe hochzugehen hatte, wurde mehr und mehr des gewaltigen Tieres sichtbar. Erst das gigantische Schädeldach, dann die dunklen und leeren Augenhöhlen. Mit den nächsten Schritten kamen die drohend nach oben gerichteten Stoßzähne zum Vorschein. Weitere zwei Stufen später präsentierte es seine gebogenen Unterkiefer, bestückt mit Mahlzähnen, von denen ein einzelner alleine so groß war, wie eine Kinderfaust. Als Nächstes offenbarte das Untier seine monströsen Ober- und Unterschenkelknochen. Melanie erinnerte sich, dass diese ihr so gewaltig und stark erschienen waren, wie die Stämme alter Eichen. Und die vier abgespreizten Fußknochen am Ende eines jeden Stammes signalisierten nur eines: Das Monster war auf dem Sprung, bereit jeden zu zermalmen.
    Dann, nach der letzten Stufe, die auch Melanie irgendwann hinter sich gebracht hatte, stand man klein und verwundbar vor dem Monster. Und Melanie spürte damals, dass das Mastodon sie angreifen würde, wenn sie hier nicht schnell genug wegkäme.
    Jetzt, Jahrzehnte später, waren all die Gefühle jenes Tages wieder da. Sie würde sich gleich ebenso klein und verwundbar fühlen. Sie würde stehen, wo sie nicht stehen mochte, sehen, was sie nicht sehen wollte.
    Nur war es nicht das Mastodon, das sie anspringen würde, sondern die blanke Wahrheit. Und genau wie damals machten ihre Beine auch jetzt nicht das, was ihnen die Angst befahl: Stehenbleiben.
    Dafür aber sorgte dann der Anblick des Patienten. Was Melanie sah, ließ ihr die Beine wegknicken. Es war nur Corinna zu verdanken, dass sie nicht hart auf den Boden schlug.
    Sie führte Melanie, vorsichtig an den Armen gestützt, einige Meter rückwärts zu einem an der Wand stehenden Stuhl. Melanie setzte sich. Langsam und zitternd. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und schüttelte immer wieder den Kopf.
    Corinna wusste nicht, was sie tun sollte. War Trost angebracht? Von ihr? Sie berührte Melanies Haare, zog die Hand aber sofort wieder zurück.
    „Es ... es tut mir so schrecklich leid", flüsterte Corinna.
    Melanie schüttelte erneut den Kopf.
    „Nein ... gut. Es ist ... er ist es! Er ist es!“
    „Was? Aber wer ... ich verstehe nicht ...“, stotterte Corinna.

-36-
     
    Die Gäste der Rentschs trudelten peu à peu ein. Trotz des Ärgers über die Verschwendungssucht ihres Mannes, versuchte Swantje den Leuten eine gute und disziplinierte Gastgeberin zu sein. Sie reichte Gebäck, richtete unablässig Käsehäppchen an und trug neue Sektflaschen herbei. Hin und wieder beobachtete sie ihren Mann.
    Arthur Rentsch wanderte von einem Gast zum anderen und verwickelte jeden in ein kurzes Gespräch. Swantje durchschaute sein Spiel. In nunmehr zweiundzwanzig Ehejahren, davon die letzten zehn in einem Nebeneinander und nicht Miteinander, hatte sie über ihren Mann einiges gelernt. Ihm ging es darum, Nachhaltigkeit zu schaffen, sich in Erinnerung zu bringen und dort haftenzubleiben, wie ein Blutegel.
    Sie fand es bemerkenswert, wie er es immer wieder schaffte, die Leute zu umgarnen. Früher hatte das bei ihr auch funktioniert. Mittlerweile allerdings waren es nur noch finanzielle

Weitere Kostenlose Bücher