SECHS
ihnen wohl zu viel gegessen.“
Sie lachte.
„Das kann ich mir gut vorstellen, Großer. Aber davon abgesehen ist es auch nicht immer unterhaltsam mit Geschwistern aufzuwachsen. Vor allem bei zwei Schwestern, wovon die eine auch noch viel älter ist.“
„Ich dachte, da gäbe es dann weniger Reibungspunkte?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Hört nie auf, das Gezicke. Glaub mir.“
Plötzlich lächelte sie bitter.
„Weißt du, ich habe Anna seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen.“
Ben blieb überrascht stehen und sah sie fragend an.
„Wir hatten ... haben Streit. Es hat ganz schön gekracht.“ Corinna senkte den Kopf.
„Magst du erzählen? Also, nur wenn du willst, natürlich.“ Sie blickte wieder zu ihm hoch.
„Nein, nein. Ich denke, das geht schon in Ordnung.“
Sie liefen weiter.
Corinna holte tief Luft, sammelte sich. Sie fürchtete, Ben könne ihr keinen Glauben schenken, sich vielleicht sogar abwenden, wenn sie ihre Geschichte erzählt hatte. Jetzt atmete Corinna aus.
„Also dann. Der ganze Schlamassel ging am einunddreißigsten Dezember los.“ Der Anfang war gemacht. Ein Zurück gab es nicht mehr.
„Silvester?“
„Genau. Silvester letzten Jahres. Wir waren an diesem Abend alle zusammen. Anna, ihr Freund Matthias, ein paar andere Leute und ich.“
Corinna ließ ihre Worte einen kurzen Moment wirken. Sie wollte sehen, wie Ben auf das Wort „Freund“ reagierte. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Das beruhigte sie. Corinna fuhr fort: „Das war eine ziemlich verrückte Party und mit viel zu viel Alkohol. Naja, wie das eben so ist.“
Ben nickte.
„Kenne ich.“
„Irgendwann waren die Meisten schon ziemlich betrunken und eben ... enthemmt. Ich war gerade alleine in der Küche, wollte mir etwas zu trinken holen und Matthias kam“, sie schüttelte den Kopf, „... nein, anders: Er torkelte herein.“
Bens Schritte verlangsamten sich. Er richtete seinen Blick konzentriert auf den Weg vor seinen Füßen und lauschte angespannt. Zumindest schien ihr das so. Sie fühlte Beklemmung in sich hochsteigen und redete schnell weiter, um nicht doch noch den Mut zu verlieren.
„Was dann passiert ist ... das war ... er hat mich angemacht! Völlig aus dem Nichts! Er klammerte sich an mich, nannte mich „Schätzchen“ und hat dauernd versucht, mich zu küssen.“
Es war raus. Mit wild klopfendem Herzen erwartete sie seine Reaktion.
„Lass mich raten. In dem Moment kam Anna rein“, sagte Ben, ihr wieder zugewandt. Corinna nickte beschämt.
„Ja, wie in einem schlechten Film. Sie ist völlig ausgerastet ... verständlich. Und seitdem haben wir Funkstille.“
„Und du hast ihr das nicht erklärt?“
Corinna kräuselte die Stirn. Diesen Anblick kannte er. Jetzt mochte er ihn.
„Natürlich, was denkst du? Sie ist meine Schwester! Aber jeden Anlauf hat sie abgeblockt. Irgendwann habe ich es dann aufgegeben.“
Sie blickte ihn unsicher an.
„Ich wollte, dass du das weißt. Wenn du mit Anna ... ich meine ... sie wird dir das erzählen und du sollst doch kein schlechtes Bild von mir haben, sondern wissen wie es wirklich war!“
Ben blieb abrupt stehen, drehte sie so, dass er ihr direkt in die Augen sehen konnte.
„Das habe ich nicht. Von Anfang an nicht, auch wenn du ein wenig ... naja ... sagen wir ...“
„... ich zickig war", ergänzte sie.
Ben lächelte.
„Kann man so sagen ... aber durchaus zurecht. Und noch was: Ich mache mir mein eigenes Bild. Was Anna zu wissen glaubt, ist mir herzlich egal.“
Mit diesen Worten hatte sie endlich die Gewissheit, die sie brauchte: Sie nahm ihn ihrer Schwester nicht weg, er hatte ihr niemals gehört. So durfte nun geschehen, was geschehen sollte und die Spannung ihrer beiden Körper signalisierte was das war.
Er zog Corinna zu sich heran. Kein schlechtes Gewissen. Nicht deswegen.
-60-
Aus der Ferne hallten Schritte. Sie näherten sich, entfernten sich wieder, tauchten übergangslos mal aus der einen, mal aus der anderen Richtung auf. Dann Gemurmel. Laute in einer kehligen Sprache. Sie durchwoben sich, lösten sich voneinander, wurden lauter, dann wieder leiser. Sie wisperten, sie stöhnten und klagten. Direkt neben ihm, dann wieder aus weiter Entfernung. Obwohl Frank nichts sehen konnte außer der Undurchdringlichkeit dieser Schwärze vor ihm, über ihm und neben ihm, ruckte sein Kopf jedes Mal panisch in die Richtung, aus der gerade eine der Stimmen erklang. Frank roch seinen Schweiß. Er war sauer. Durchsetzt mit
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