SECHS
zu fahren. Die wichtigste Information hatte sie bekommen. Sie fühlte sich, als sei gerade eine schwere Schubkarre ausgeleert worden, die sie die ganze Zeit durch die Gegend geschoben hatte.
Melanie nickte.
„Dann werde ich morgen wiederkommen. Darf ich Ihnen aber noch eine Frage stellen?“
Waller nickte.
„Aber sicher.“
„Diese Frau, die da gerade in den OP geschoben wurde“, sie versuchte sich an den Namen zu erinnern, „das war doch eine Kollegin von Ihnen?“
„Ja, das ist richtig.“
„Was ist ihr passiert?“
„Dazu darf ich Ihnen leider nichts sagen.“
„Und wie es ihr geht, dürfen Sie das sagen?“
„Nein. Auch das unterliegt der Schweigepflicht.“
„Okay. Aber ich würde Sie wirklich gerne besuchen, wenn das geht? Sie hat immerhin meinen Mann behandelt und mich gerade wiedererkannt. Da dachte ich, es wäre in Ord...“
Der Arzt unterbrach sie sofort. Und dabei erkannte Melanie zum ersten Mal so etwas wie eine Regung in seinem Gesicht. Irritation.
„Das ist unmöglich!“, er schüttelte energisch den Kopf.
„Ich bin mir sicher! Sie hat mich direkt angesehen.“
„Frau Brenner, ich darf Ihnen keine Ausku...“, er hielt mitten im Satz inne. Nach kurzer Bedenkzeit machte er eine Ausnahme: „Die Kollegin ist seit der Einlieferung ohne Bewusstsein und davon abgesehen ... ihr Kopf war fixiert.“
-56-
Sirkowsky war zwar mit dem Kerzenständer voran durch das Glas gesprungen, aber geholfen hatte es ihm nicht. Denn nun stand er halbnackt im Bad seiner Absteige und versuchte, unter dem funzeligen Licht der Deckenlampe, die gut zwanzig Zentimeter lange und breit klaffende Schnittwunde zu versorgen, die sich wie ein Krater in seinem Oberschenkel auftat. Den behelfsmäßigen Druckverband, den er sich aus dem verrauchten Vorhangstoff des Zimmers zurechtgerissen hatte, änderte nur wenig daran, dass sich das Blut weiterhin seinen Weg suchte. Es rann zwar langsamer, aber doch unaufhörlich das Bein herab und bildete auf dem schmutzigen Boden eine schwarz-braune Schmiere. Ihm war klar, dass er verbluten würde, wenn das so weiterginge. Er würde schwächer und schwächer werden, irgendwann das Bewusstsein verlieren und in diesem Rattenloch krepieren. Und die ersten Vorboten dafür zeigten sich bereits. Er spürte einen leichten Schwindel, zitterte wie durch eine Unterzuckerung und auf seiner Stirn machte sich kalter Schweiß breit.
Wie viel Blut konnte man verlieren? Einen halben Liter? Einen Liter? Zwei? Viel mehr sicherlich nicht. Er brauchte Hilfe. Sofort! Schließlich waren seit seiner Flucht bereits fast zwanzig Minuten vergangen. Ins Krankenhaus konnte er unmöglich. Zu groß war die Gefahr, dass er dort erwartet wurde. Ihm fiel nur einer ein, der ihm etwas schuldig war und dem er Hilfe abverlangen konnte.
Er band das Bein zusätzlich noch einmal oberhalb der Wunde ab, zog den Knoten so fest, bis es schmerzte. Dann humpelte er zu seiner Jacke, zog das Handy mit blutverschmierten Fingern aus der Innentasche und ließ sich mit beiden Beinen zum Kopfende hin auf das Bett fallen. Die Füße legte er auf der Oberkante des Kopfteils ab. Damit war die Wunde über Herzniveau. Nun musste er noch Ruhe in seinen panischen Organismus bringen, versuchen, seinen Herzschlag zu verlangsamen. Das alles sollte ihm etwas mehr Zeit verschaffen.
Er wählte.
-57-
Als Rentsch mit einem Arzt im Schlepptau bei Sirkowsky eintraf, war der Mann schon ohne Bewusstsein. Die blutige Sauerei, die sich ihnen bot, ließ die Nervosität in Rentschs Knochen kriechen, wie eine Armada von Termiten, die sich durch Holz fräste.
Wenn nicht so viel von Sirkowsky abhinge, konnte der seinetwegen in diesem Loch hier verrecken. Erst recht jetzt, da Rentsch ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekam und befand, dass er auch optisch dem Bild entsprach, dass er sich von ihm gemacht hatte.
Sirkowsky war ihm die Inkarnation des Antipathen.
Riesig, hässlich und gemein wie die Nacht. Aber noch brauchte er ihn. Also trieb er den Arzt an. Und der machte ihm keinerlei Schwierigkeiten, weil auch der sich irgendwann in dem von Rentsch ausgeworfenen Netz aus Gefälligkeiten verfangen hatte.
Während der Arzt versuchte Sirkowskys Zustand zu stabilisieren, dachte Rentsch fieberhaft darüber nach, was nun zu tun sei. Nachdem er aus dem Idioten noch herausbekommen hatte, weshalb er verletzt worden war und nun so schnell Hilfe benötigte, hielt er es für notwendig seinen apokalyptischen Reiter eine Weile aus dem Spiel zu nehmen.
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