SECHS
ihren Verstand. Ihr Lächeln gefror, und mit starrer Miene setzte sie sich in Bewegung. Das Telefon lag auf dem Küchentisch, blinkte hektisch und musste noch vier weitere Male klingeln, bevor sie sich durchrang das Gespräch anzunehmen.
„Ja ...?“, meldete sie sich leise.
„Frau Brenner? Unfallklinik. Doktor Waller hier. Wir hatten vorhin miteinander gesprochen.“
Weil Melanie nicht antwortete, sondern nur schwer in den Hörer atmete, redete Waller einfach weiter.
„Es geht um Ihren Mann, er ist ...“
„Was? Was ist mit ihm?“
„Frau Brenner, vielleicht sollten Sie vorbeikommen!“
„ Was – ist - mit - meinem - Mann?“, kam es mit Nachdruck.
Waller schwieg einen Moment.
„Er ist wach.“
Stille. Überall. Die Erde drehte sich nicht mehr. Nur für einen Moment, gefühlt aber wie eine Ewigkeit. Als sie wieder anlief, die Umgebungsgeräusche erneut einsetzen, sagte Melanie: „Ich verstehe nicht ... ich dachte, Sie wollten ihn noch nicht wecken?“
„Das ist es ja“, Waller räusperte sich, “wir haben ihn nicht geweckt. Ihr Mann ist aus eigener Kraft aufgewacht, und zwar gegen die Narkose.“
„Wie das? Wie kann das sein?“ Sie schloss die Augen und fuhr sich nervös durch die Haare.
„Hören Sie, wenn das ein schlechter Scherz sein soll ...“
„Frau Brenner“, unterbrach der Arzt sie schnell, „das ist kein Scherz! Dafür haben wir selbst keine Erklärung. Und davon abgesehen ist sein Zustand jetzt in jeder Hinsicht völlig ungewöhnlich.“
Eigentlich wollte Melanie sich einfach nur freuen. Doch dieser Mensch machte ihr Angst mit seinen Andeutungen.
„Was heißt das schon wieder?“
Sie hörte, wie Waller einmal tief Luft holte.
„Schauen Sie. Normalerweise setzt man die Medikamente langsam ab. Die Patienten wachen mit der Geschwindigkeit auf, mit der man sie aufwachen lassen möchte. Wir können das einigermaßen kontrollieren. Wie schnell das geht, hängt natürlich auch ein Stück weit von der Konstitution des Patienten ab. Sie sind aber noch Stunden oder sogar Tage nach dem Aufwachen benommen, halluzinieren meist unter dem Einfluss der Medikamente. Wir nennen das Durchgangssyndrom. Aber bei ...“
„Können Sie mir all das ersparen? Bitte!“, sagte sie erschöpft. „Was ist bei meinem Mann ungewöhnlich?“
„Ja, natürlich! Also, bei Ihrem Mann ist das alles anders. Er zeigt nichts von alledem. Sein Organismus ist nach dem Aufwachen einfach wieder angelaufen. Vergleichbar mit einem Motor, der trotz leerer Batterie ohne Probleme anspringt. Oder um es noch deutlicher zu machen: Von Null auf Hundert! Verstehen Sie?“
Das tat sie nicht. Das Einzige was sie verstand war, dass Waller die Fakten mit einer deutlich anzumerkenden Faszination präsentierte. Gerade so, als ob Frank eine Laborratte wäre und irgendein Experiment geglückt ist, von dem er ausgerechnet ihr berichten musste. Er fuhr fort.
„All das könnte man versuchen damit zu erklären, dass sein Körper die Narkosemittel in ungewöhnlicher Geschwindigkeit abbaut. Aber offen gesagt: Ich glaube es nicht und es wäre nur dann überhaupt vorstellbar, wenn wir damit angefangen hätten, die Medikamente ausschleichen zu lassen. Haben wir aber nicht! Es gibt keine plausible Erklärung dafür, dass Ihr Mann gegen eine unvermindert bestehende Narkose aufwacht. Eine Fehldosierung oder Falschmedikation liegt nicht vor. Wir haben in dieser Hinsicht alles überprüft. Ihr Mann war richtig eingestellt!“
Für Waller war in diesem Zusammenhang unbedeutend, dass Frank so gut wie tot gewesen war, und man ihn hatte defibrillieren müssen. Also sah er keine Notwendigkeit, das zu erwähnen.
Als Waller schon ansetzte zu erklären, dass das so etwas wie eine medizinische Sensation wäre, wurde er von Melanie sofort ausgebremst. Ihr schwirrte der Kopf.
„Halt! Stop!“
Auf der anderen Seite wurde es tatsächlich still.
Melanie versuchte die Konsequenzen all dessen zu erfassen, was Waller da gesagt hatte. Aber unter dem Strich kam dabei nur heraus, dass Frank wieder unter ihnen war. Und da schien es ihr völlig gleich, wie und warum.
„Ich will nur eines wissen: Ist mein Mann ansprechbar?“
„Deswegen rufe ich an. Er will Sie sehen. Sofort!“
-64-
Weil Melanie nicht wusste, was sie im Krankenhaus erwartete und sie die Kinder um diese Zeit auch nicht aus dem Schlaf reißen wollte, hatte sie die Nachbarin aus dem Bett geklingelt und gebeten, für zwei, vielleicht auch drei Stunden aufzupassen. Die Kinder kannten
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