SECHS
Krankenhauses, denen jemand das Licht ausknipste oder, wie in diesem Fall, es zumindest versuchte, war ihm des Zufalls zu viel. Sein Gefühl jedenfalls nickte hierzu heftig.
Reimar drehte die Heizung seines 77er C-Kadett bis zum Anschlag auf, fror aber weiter. Er akzeptierte klaglos, dass das eben der Preis war, den er zu zahlen hatte, wollte er in einem Auto sitzen, das nur unwesentlich jünger war, als er selbst.
Um sich von der Kälte abzulenken, schaltete er jetzt das Radio ein. Das ewig Gleiche wurde durchgenudelt. Wie ihm das auf den Wecker ging! Im Moment war es mal wieder „So What“ von Pink.
Immer mehr Schnee kam herunter. Er reduzierte die Sicht auf kaum zwanzig Meter und bildete langsam, dafür aber sicher, einen rutschigen Teppich auf der Fahrbahn.
Er würde wohl ein bisschen länger brauchen.
*
Seine Ankunft wurde von Raith schon ungeduldig erwartet. Gegen achtzehn Uhr endlich klopfte Reimar an die Tür und trat ein, ohne auf ein Zeichen zu warten. Raith war von Reimar zwar bereits telefonisch informiert worden, aber eben nicht in vollem Umfang. Und wenn Raith eines hasste, dann war es, lediglich angefüttert zu werden.
Nachdem beide Männer sich hingesetzt hatten, erklärte Reimar ihm alles haarklein, einschließlich der von ihm angestellten Überlegungen. Die ganze Zeit über saß Raith in seinem Stuhl, wippte vor und zurück, aber nicht ein einziges Mal unterbrach er seinen Assistenten. Eine viertel Stunde später war Reimar dann durch.
Klack. Klack. Nach dem dritten Klack redete Raith:
„Das ist eine wilde Geschichte. Dir ist klar, dass das auch hätte schief gehen können?“
Reimar zuckte mit den Schultern.
„Was hätte ich tun sollen? Verstärkung rufen? Bis dahin wäre die Frau tot gewesen.“
Klack. Klack.
„Das ist sie bereits.“
„Was?“ Reimar schnellte im Stuhl nach vorne.
„Kurz nachdem du angerufen hast, bekam ich die Nachricht rein. Sie hat es nicht geschafft. Sie ist noch im OP gestorben.“
„Verdammt!“ Reimar rieb sich die Stirn und sank wieder zurück.
„Ich habe wirklich gehofft, die Frau kommt durch. Sie hätte uns weiterhelfen können.“
„Große Güte, wann war es schon mal einfach? Ich meine, wirklich einfach? Wir haben noch einige Fälle offen, die ein viertel Jahrhundert alt sind. So ist es nun mal.“
Auch wenn das in den Ohren von Reimar ein bisschen zu sehr nach „So what?“ klang, hatte sein Chef recht. Zwar war die Erfolgsquote ihres Dezernats zufriedenstellend hoch, aber die Angst davor, mit jedem neuen Fall an einen zu geraten, der auf ewig zwischen seinem Tisch und dem Schrank mit den ungelösten Fällen rotierte, ging zumindest an ihm nicht spurlos vorbei.
„Kannst du dich an die Sache mit dem Ärzte-Ehepaar erinnern?“
„Die beiden, die in ihrem Bett erschlagen wurden?“, fragte Raith.
„Genau die. Bis heute nicht die Bohne einer Spur. Kein Motiv, einfach nichts. Und der Fall liegt nun schon über zehn Jahre zurück. Irgendwann lernt man, damit umzugehen.“
Reimar schüttelte den Kopf.
„Ich nicht. Immer, wenn ich den Angehörigen in die Augen schauen muss oder eine Sachstandsanfrage auf dem Tisch liegen habe, dann schüttelt es mich.“
„Wie einen verlausten Affen. Kenn' ich. Bei solchen Fällen kann man einfach nur warten", konstatierte Raith und kratzte dabei seinen Vollbart.
„Worauf? Dass eine gute Fee oder ein Racheengel herabsteigt?“
„Dass in der Datenbank irgendwann ein Treffer auftaucht.“
-63-
Gegen dreiundzwanzig Uhr, Sirkowsky war in der Datscha angekommen, seine Verfolger langweilten sich vor ihren Fernsehern, und Corinna und Ben lagen erschöpft nebeneinander im Bett, klingelte Melanies Telefon.
Die Kinder schliefen und Melanie beschäftige sich gerade damit, die Weihnachtsgeschenke zu verpacken. Auch die für Frank. Derlei Vorbereitungen waren immer etwas gewesen, das sie sich mit Frank geteilt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie stets bei einem Wein am Tisch gesessen und sich beide über seine chronische Unfähigkeit amüsiert hatten, so zu packen, dass es hinterher nicht aussah wie ein Origami-Unfall. Die Erinnerung trieb ihr ein Lächeln ins Gesicht. Würde es jemals wieder so werden? So wie früher?
Erst das vierte Klingeln drang in ihr Bewusstsein - dann aber mit der Schärfe einer Axt. Ein Anruf, zumal um diese Zeit, verhieß nichts Gutes. Das hatte sie mittlerweile mehr als eindringlich gelernt. Sofort zog sich das Stahlband aus Angst wieder zu - um ihr Herz, ihren Bauch und um
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