SECHS
ließe? Wäre das im Sinne der Kinder, im Sinne von Frank? Die Antwort lag auf der Hand: Nein! Das Fest ausfallen zu lassen, hieße doch, alle ihrem Schmerz zu unterwerfen?
Sie war jetzt so sehr mit diesen Gedanken beschäftigt, dass sie nicht bemerkte, dass sich um sie herum etwas veränderte. Im Gang kam Hektik auf.
Eine Vorhut aus Blau- und Weißbekittelten hetzte zu den OP-Sälen. Wenige Sekunden später folgte ihnen ein Tross aus OP-Helfern und Ärzten, die eine Notarzt-Bahre flankierten, auf der jemand mit dem Tode rang. Anweisungen hallten durch den Flur und vermischten sich mit dem Getrappel vieler Sohlen. Doch erst als etwas klirrend zu Boden fiel, schreckte Melanie auf und beobachtete die Geschehnisse.
Einen Moment verkrampfte sich ihr Bauch vor Angst.
Als die Bahre an ihr vorbeirauschte, erhaschte sie einen kurzen Blick auf den Patienten. Wen sie da erkannte, ließ ihr den Atem stocken. Es war die Ärztin! Doch damit nicht genug. Die Frau drehte ruckartig den Kopf zu ihr und blickte sie aus blutunterlaufenen Augen an. Starr. Leblos. Einen Lidschlag später hatte sie ihr Gesicht wieder nach oben gedreht und die Augen geschlossen. Dann war der Zug auch schon vorbei und verschwand schnell hinter den automatischen Doppeltüren.
Melanie war fassungslos. Gestern noch hatte sie sich mit dieser Frau unterhalten, war die Ärztin doch diejenige gewesen, von deren Kunstfertigkeit das Leben anderer abhing. Und nun, mit einem Mal, hatte sich alles verkehrt, teilte sie das Schicksal derer denen sie half und hing ab von jenen, an deren Seite sie gekämpft hatte.
Trotzdem, dass sie noch vor wenigen Stunden selbst erfahren hatte, wie schnell es einen Menschen aus der Normalität seines Lebens herausreißen konnte, war sie geschockt. Was ihr wohl widerfahren war? Und ihre Augen! Wie konnte so etwas nur sein? Melanie stand auf und lief nervös auf und ab. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren, wanderte von Frank, zu der Ärztin und wieder zurück. Unzählige Male, so oft, bis sie von einer Stimme aus ihren Gedanken gerissen wurde.
„Frau Brenner?“
Melanie drehte sich um. Vor ihr stand ein schlaksiges, blasses Männchen. Auf dem silberfarbenen Schild, das an der Brusttasche seines Kittels befestigt war, stand 'Dr. G. Waller'. Sofort suchte sie sein Gesicht nach einer verwertbaren Regung ab. Da war nichts. Er streckte ihr die Hand entgegen und Melanie ergriff sie, wenn auch zögerlich.
„Mein Name ist Waller. Man hat mir ausgerichtet, dass Sie hier warten.“
Melanie schluckte schwer und nickte.
„Ich kann Sie beruhigen. Die Operation ist gut verlaufen. Sein Zustand kann als stabil bezeichnet werden.“
Melanie brauchte einen Moment, um das Gesagte zu erfassen. Als sie entschieden hatte, dass es ihr zu gehaltlos war, schüttelte sie den Kopf.
„Was genau heißt, als stabil zu bezeichnen ?“
„Nun, das heißt zunächst, dass keine Verschlechterung seines Zustands eingetreten ist.“
„Herr ...“, Melanie schaute noch einmal auf das Schild, „Doktor Waller. Es ist mir schon klar, was das bedeutet. Vielleicht geht es etwas genauer, bitte?“
Noch immer hatte sein Gesicht den Ausdruck eines toten Fisches.
„Sehen Sie, wir haben die restlichen Frakturen versorgt und kontrolliert, ob noch innere Blutungen aufgetreten sind. Nach einem solchen Unfall ist das Wichtigste, die kritische Phase zu überstehen. Und Ihr Mann hat sie überstanden. Aussagen zum weiteren Verlauf kann man zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht treffen. Das wäre ... unseriös.“
„Können Sie mir denn sagen, wann er aus dem Koma geholt wird?“
„Wir werden es bald etwas flacher halten, um ihm seinen Tag- und Nachtrhythmus zu bewahren.“
„Das bedeutet?“
„Dass man ihn hin und wieder fast aufwachen lässt, aber eben nur fast. Wir halten es für besser, seinen Körper noch ein wenig zu schonen. Frühestens in ein paar Tagen kann man daran denken, die Narkose langsam ausschleichen zu lassen, also peu à peu zurückzuschrauben.“
„Heißt das, dass mein Mann außer Lebensgefahr ist?“
„Komplikationen können immer auftreten. Aber für den Moment können wir das so sehen.“
„Ich würde gerne zu ihm ...“
„Derzeit macht das noch nicht viel Sinn. Pfleger kümmern sich gerade um ihn. Sie haben mehr von Ihrem Mann, wenn Sie in ein paar Stunden, besser noch morgen wiederkommen.“
Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihm zu reden, ihn zu berühren. Aber vielleicht war es wirklich das Klügste, nach Hause
Weitere Kostenlose Bücher