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SECHS

SECHS

Titel: SECHS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niels Gerhardt
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eingefallen, hatte er sich an ihren Namen erinnern können. Und das war, noch bevor Fay bei ihm aufgekreuzt war.
    Mit geballten Fäusten wartete sie auf den Fahrstuhl. Mit einem elektronischen Gong kündigte der sich an, die Türen glitten zur Seite und Melanie trat ein. Nachdem sie den Knopf für den ersten Stock gedrückt hatte, sich die Türen wieder rappelnd zusammenschoben, folgte der Aufzug ihrem Kommando. Die mächtigen Drahtseile spannten sich in der Dunkelheit des Schachts, setzten die Kabine mit einem dumpfen Knarren in Bewegung und mit einem Schlag in ihre Knie, ging es nach oben.
    Auf der Station angekommen, trat sie bitter entschlossen in den Flur hinaus und ebenso entschlossen schlug sie den Weg zu Franks Zimmer ein. Doch all ihre Entschlossenheit, all ihre Wut, die sich bis hierhin wie Eiter in einer Blase angesammelt hatte, zerplatze ziellos, als sie in sein Zimmer trat.
    Es war leer.
    Melanie blickte ungläubig in den Raum hinein. Als sie Absatzgeklapper hinter sich hörte, wirbelte sie herum. Sie erblickte eine Schwester, die den Flur entlangeilte.
    „Entschuldigen Sie? Hallo?“, rief Melanie.
    Die Frau stoppte und blickte sie über ihre Brillenränder hinweg an.
    „Mein Mann ... er ist nicht in seinem Zimmer!“ Melanie wedelte mit ausgestrecktem Arm hektisch in den leeren Raum hinein.
    Die Schwester zuckte mit den Achseln.
    „Der ist vielleicht nur kurz auf Toilette oder spazieren.“ Melanie schüttelte den Kopf.
    „Nein. Schauen Sie sich doch mal sein Bett an. Es sieht aus, als hat er gar nicht darin gelegen. Und all seine Sachen auf dem Nachtschrank ... wo sind die?“
    Die Schwester lehnte sich an Melanie vorbei und warf einen kurzen, überaus gleichgültigen Blick in das Zimmer.
    „Dann war eine Kollegin bereits da zum Aufräumen. Sind Sie sicher, dass das sein Zimmer ist?“
    „Hören Sie“, unterbrach Melanie, „ich komme jetzt seit fast zwei Monaten jeden Tag hierher. Ich werde doch wohl wissen, wo mein Mann ist!“
    „Wie ist der Name?“, fragte sie.
    „Brenner. Frank Brenner.“
    Sie nickte.
    „Ja, den kenne ich. Aber ich kann Ihnen auch nichts sagen. Meine Schicht hat gerade erst begonnen. Fragen Sie eine Kollegin.“
    „Aber ...“, setzte Melanie an.
    „Ich muss jetzt leider ...“, fiel ihr die Schwester ins Wort, wendete sich ab und rannte dann noch eiliger davon, als sie gekommen war. Melanie blieb sprachlos zurück.
    Sie fragte im Schwesternzimmer nach, sie hielt Ärzte an, einfach jeden, von dem sie glaubte, er könne ihr Antworten geben. Aber nichts. Keiner wusste etwas. Melanie erhielt stets gleichlautende Aussagen: dass er bestimmt unterwegs sei und sie sich keine Sorgen machen müsse.
    Sie überlegte. Ihr fiel nur noch ein Ort ein, wo er stecken konnte: ein Stockwerk höher, bei Anna Liebermann.

-89-

    Nicht nur Sirkowsky befand sich auf dem Weg zum Haus der Brenners. Kurz bevor Melanie das Krankenhaus betreten hatte, war vor der Pforte ein Taxi vorgefahren und mit Frank darin verschwunden. Das Einsteigen war ihm, mit seinen aus dem Fleisch ragenden Gestängen, alles andere als leicht gefallen, aber das nahm er in Kauf. Er konnte nicht mehr in seinem Bett liegenbleiben und unmotiviert mit den Metallstangen quietschen, während sich da irgendwas über seiner Familie zusammenbraute.
    Den ganzen gestrigen Tag hatte er zwar noch darüber nachgedacht, ob er Melanie einfach warnen sollte und darauf vertrauen, dass sie das Richtige tun würde. Aber am Ende des Tages und seinen Überlegungen war er zu dem Schluss gekommen, dass er damit nur Angst schüren würde. Möglicherweise einmal mehr vor ihm selbst.
    Und so war Frank in den frühen Morgenstunden aufgestanden, um sich vorzubereiten. Die nötige Kraft und Ruhe sammelte er, indem er konzentriert Dinge ordnete, faltete, einräumte und zusammenlegte – insbesondere die Bettwäsche. Als er damit fertig geworden war, hatte er noch gut eine halbe Stunde vor dem geöffneten Fenster verbracht, die hereinstürmende Luft genossen und sich dann, um die gesammelte Kraft nicht gleich wieder zu verbrennen, mit dem Rollstuhl auf den Weg nach unten gemacht.
    Und hier saß er nun, auf der Rückbank eines alten, nach kaltem Schweiß und trockenem Leder riechenden Mercedes Benz, der, genauso wie sein Fahrer, die besten Tage schon erlebt hatte. Er war auf dem Weg nach Hause, freute und fürchtete sich zugleich. Vor allem davor, dass sich sein Gefühl manifestieren könnte – in was oder wem auch immer. Aber auch die Ungewissheit

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