Sechseckwelt 05 - Dämmerung auf der Sechseck-Welt
Zigeuner grinsend und schloß die Augen. Kurze Zeit geschah nichts, dann schien sein Körper plötzlich zu schimmern und zu wabern und ein wenig zu schrumpfen. Langsam, ganz langsam nahm Zigeuner die äußere Erscheinung von Nathan Brazil an.
»Du hast mir nie erzählt, daß du das kannst«, murrte Marquoz. »Das hätte mir eine Menge erspart, Mann.«
Die Erscheinung Nathan Brazils, jetzt verfestigt und ganz echt wirkend, zeigte ein Zigeuner-Grinsen.
»Es gibt vieles, was ich dir nicht erzählt habe, alter Freund.« Er sah sie der Reihe nach an. »Also? Glaubt ihr, daß es funktionieren wird?«
Bis auf Asam, der Brazil nie gesehen hatte, gafften sie alle die Gestalt an. Es war Brazil, vollkommen, ganz exakt, bis aufs Haar. Selbst Stimme und Tonfall waren richtig.
»Es wird klappen«, bestätigte Mavra. »Sie konnten mich überzeugen, und ich habe es gesehen.« Aber im Innersten beunruhigte sie das sehr. Obie hatte ihm trotz Zigeuners Behauptungen nicht die Fähigkeit verliehen, das zu bewirken.
Obie mochte gewußt haben, daß Zigeuner diese Fähigkeit besaß, und entsprechend geplant haben, aber Zigeuner das Talent zu verleihen, überstieg selbst Obies Möglichkeiten. Um jemand anders zu werden, nach Wunsch aufzutauchen und zu verschwinden, mußte man durch die Parabol-Antenne. Es gab nur eine mögliche Erklärung.
»Hypnose wird einen lebendigen Beobachter täuschen«, erklärte sie, »aber niemals eine Kamera.«
»Es ist keine Hypnose«, sagte der Brazil, der nicht Brazil war. »Es ist echt. Es läßt sich fotografieren, es hält sogar – angenehmer Gedanke! – einer Obduktion stand. Ich bin Zelle für Zelle Brazils genaues Abbild. Und solange ihr mich alle behandelt, als wäre ich Brazil, und solange ich darauf achten kann, mich ständig wie Brazil zu verhalten, wird es klappen. Sie werden hinter uns her sein wie die Bienen hinter dem Honig.«
Yua starrte ihn kurze Zeit an.
»Sie sind mächtiger als Brazil«, sagte sie tonlos. »Wie kann das sein?«
Zigeuner lachte ein wenig unsicher.
»Wenn das nur wahr wäre. In einem gewissen Sinn bin ich mächtiger. Aber nur in bezug auf mich selbst. Ich könnte keinen von Ihnen auf irgendeine Weise verwandeln, könnte Sie nicht hypnotisieren, nicht zwingen, irgend etwas zu tun, was Sie nicht tun wollten, außer ich rede Ihnen ein Loch in den Bauch oder etwas Ähnliches. Nein, Yua, ich habe Fähigkeiten, die Brazil in seiner jetzigen Form nicht besitzt. Sie haben sie alle, wenn Sie genau nachdenken. Aber das ist auch schon alles. Eigentlich ein Schwindel. Nur ein Trick. Merken Sie sich nur das eine: Ich kann genauso leicht getötet werden wie irgendeiner von Ihnen. Ich rechne damit, daß ich dabei umkomme. Vielleicht sterben wir alle. Aber nicht Brazil. Er kann nicht sterben. Der Schacht läßt es nicht zu.« Er schwieg einen Augenblick und überdachte seine Worte, beinahe so, als versuche er zu entscheiden, ob er überhaupt etwas sagen sollte. Schließlich erklärte er: »Hören Sie, das sind alles Vermutungen, aber ich glaube, Brazil will sterben. Ich glaube, er plant das.«
»Du hast eben gesagt, er kann nicht«, wandte Marquoz ein.
»Nicht hier. Nicht jetzt. Aber dort, im Schacht selbst, da kann er sterben. Er ist ein Wächter. Er hatte auch eine schwere Aufgabe. Er mußte vielleicht Milliarden von Jahren dabeibleiben, mußte zusehen, wie alle anderen alt wurden und starben, mußte alles erleben, was man erleben kann, und ich wette, daß er sich zu Tode langweilt. Den Archiven nach wußte er beim letztenmal, als er auf der Sechseck-Welt war, nicht einmal, daß er jemals schon hier gewesen war. Er erinnerte sich nicht. Er hatte das völlig verdrängt, zur Kompensation, in erster Linie, würden die Psycholeute wohl sagen. Er wollte vergessen und vergaß auch. Es bedurfte der Sechseck-Welt, um die Verdrängung ganz aufzuheben, und ich glaube, seitdem versucht er erneut, wieder zu vergessen.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich das aushielte«, murmelte Mavra. »Nach tausend Jahren langweile ich mich jedenfalls nicht.«
»Vielleicht bekommen Sie die Gelegenheit«, warnte Zigeuner. »Oder ein anderer von euch. Ich glaube, wenn er einmal hineingelangt und tut, was getan werden muß, hat er vor, einen anderen zu bestimmen, ihn dafür auszubilden und dann zu sterben. Ich möchte beinahe darauf wetten.«
Yua brach schließlich das lange Schweigen, das dieser Feststellung folgte, und sagte: »Das glaube ich nicht. Er könnte es nicht. Er ist Gott, der
Weitere Kostenlose Bücher