Sechseckwelt 05 - Dämmerung auf der Sechseck-Welt
Ich kann nur vermuten, daß er vorhat, vor dem Kampf Ihre Truppe zu verlassen, wobei er den Tod von Ihnen und Ihren Leuten zur Ablenkung benützt – vielleicht läßt er noch ein Ebenbild zurück, um uns zu täuschen. Aber das wird nicht funktionieren. Darauf sind wir gefaßt. Es spricht alles dafür, daß er nie die Avenue erreichen wird, geschweige denn den Schacht selbst.«
»Wozu brauchen Sie dann mich noch?« knurrte Asam.
»Wir könnten ihn trotzdem verfehlen. Alles spricht dagegen, aber es ist möglich. Er ist sehr schlau.« Er schwieg kurze Zeit. »Äh, wissen Sie genau , welcher der richtige Brazil ist?«
»Ich weiß, wer wer ist«, antwortete der Colonel.
»Deshalb berücksichtige ich auch die letzte Möglichkeit, verstehen Sie? Der Tausch ist ein ganz einfacher – Mavra Tschang gegen Brazil. Im Lauf des kommenden Tages. Sagen wir, spätestens bis morgen nacht um diese Zeit. Damit wird nicht nur das Hauptziel erreicht, sondern auch der kommende Kampf verhindert. Es wird nicht nötig sein, die Truppen in den Tod zu jagen, begreifen Sie?«
Asam runzelte die Stirn.
»Ich traue Ihnen nicht, Sangh. Seit wann kümmert es Sie, wer am Leben bleibt und wer stirbt, wenn es nicht Ihre eigene Person betrifft? Ich habe keine Garantien.«
»Sie haben mehrere«, erklärte Gunit Sangh. »Sie schaffen Brazil zu einem Zone-Tor und schleusen ihn durch. Diplomatische Immunität, ja? Obwohl der Rat gegen Sie ist, wird man in Zone nichts unternehmen. Bringen Sie ihn zu Ihrer eigenen Botschaft. Wir nehmen dort den Tausch vor. Besser noch, schicken Sie Kuriere voraus. Nehmen Sie Brazil mit, aber schleusen Sie ihn nicht durch, bis ein Kurier mit der Nachricht zurückkommt, daß sich Mavra Tschang lebend in meiner Botschaft in Zone befindet.«
Asam hatte sich völlig beruhigt und dachte nach. Schließlich sagte er: »Warum tun Sie das, Sangh? Warum haben Sie den Oberbefehl überhaupt übernommen? Was, zum Teufel, haben Sie davon?«
»Bedenken Sie, welche Ehre sich derjenige erwirbt, der Nathan Brazil dingfest macht«, erwiderte der Dahbi. »Ehre, Macht und Einfluß. Denken Sie an das ideale Gefängnis, Hunderte von Metern unter massivem Granit, der Tunnel, durch den er hinuntergebracht wurde, verschüttet bis auf ein kleines Loch für Nahrung und Wasser. Der Rat wird Brazil nicht bekommen. Die Dahbi – ich – wir werden Brazil haben. Sozusagen als stumme Geisel. Und ich werde die Dankbarkeit aller erwerben, die ihr Leben nicht in sinnlosen Schlachten verlieren mußten. Bedenken Sie die Wirkung auf Ortega, der nicht länger so gefürchtet sein, nicht länger die alleinige Macht besitzen wird. Er wird seine Stellung mir abtreten müssen, und die fette alte Schlange wird endlich sterben, der Einfluß auf Sechseck-Welt und Rat wird gebrochen sein. Es wird bereits gemunkelt, man könne ihm als einem alten Freund Brazils in dieser Sache nicht recht trauen. Die Möglichkeiten sind unabsehbar.«
Asam fröstelte ein wenig, als er sich Gunit Sangh ungezügelt an der Macht vorstellte, aber seltsamerweise beruhigte ihn dieser unheilvolle Plan auch. Sangh war aufrichtig zu ihm, teils aus Vertraulichkeit, teils aus seiner grenzenlosen Arroganz heraus.
»Wir bringen sie morgen, wenn es dunkel ist, nach Zone, und zwar so rasch wie möglich«, fuhr der Dahbi fort. »Wir werden jeden Abgesandten von Ihnen in unserer Botschaft dort empfangen, damit er sich vergewissern kann. Dann haben Sie acht Stunden Zeit, um sich an die Abmachung zu halten.«
»Und danach?« fragte Asam stirnrunzelnd.
»Sie können gemeinsam nach Dillia zurückkehren«, erklärte Sangh. »Zwischen uns persönlich ist damit aber noch nichts ausgestanden, versteht sich. Das bleibt offen – wie bisher. Sicheres Geleit für Sie und die Frau zurück nach Dillia, das ist alles, wofür ich garantieren kann. Danach besteht keine Abmachung mehr.«
Asam seufzte.
»Ich überlege es mir«, sagte er. »Und wenn ich nicht mitmache?«
»Dann wird die Frau das Hauptgericht eines rituellen Festmahls für mein Botschaftspersonal sein, und es wird von ihr keine Spur bleiben«, antwortete der Dahbi kalt.
»Sie gemeiner Kerl«, fluchte Asam wütend. »Sie gemeiner Dreckskerl. Sie und ich werden das eines Tages persönlich austragen.«
»Eines Tages«, bestätigte der Dahbi. »Aber nicht in den nächsten beiden Tagen.« Er verwandelte sich in den milchigweißen Zustand und versank langsam im Boden, bis er völlig verschwunden war.
»Gemeiner Dreckskerl«, sagte Asam in die
Weitere Kostenlose Bücher