Sechselauten
durchs Hosenbein und suchte seine Krücken. Weil er sie nirgends finden konnte, humpelte er zum Türöffner. Der Kommissar fühlte sich elend.
Wieder klingelte es. Zweimal.
Es war Jagmetti.
»Warum musst du immer zweimal läuten?«, fragte Eschenbach gereizt, als der Bündner in die Wohnung trat.
Claudio streckte ihm die Gehhilfen entgegen. »Sind das deine?«
»Ja, verdammt.«
»Standen hier draußen an der Wand … Hast du einen Moment Zeit?«
Jagmetti wirkte unsicher. Eschenbach merkte es sofort. Die dunklen Augen seines Kollegen wichen ihm aus, suchten den Boden und die Wände. Das sonst so selbstsichere Grinsen glich einem verlegenen Lächeln.
»Kaffee oder Tee?«
»Egal.«
Sie gingen in die Küche und sahen schweigend zu, wie die Espressomaschine ihre Arbeit verrichtete.
Claudio fuhr sich durch sein dunkles, fast schwarzes Haar. Seine hohen Wangenknochen glänzten in einem satten Braun.
»Du siehst aus wie ein Skilehrer«, fuhr Eschenbach ihn an.
»Ich kann auch nichts dafür … bin halt ein dunkler Typ.«
»Du schreibst diesen Bericht«, sagte der Kommissar. Sein Tonfall wurde milder. »Hat mir Rosa gesagt. Ist lieb gemeint, aber nicht nötig. Bin wieder voll hergestellt … siehst du ja.«
Claudio nickte, sah Eschenbach an und verzog den Mund.
Der Bündner war ein zuverlässiger Kamerad, Eschenbach wusste es nur zu gut. Ein Talent, vielleicht der beste Assistent, den er je gehabt hatte. Und weil gute Leute ihren eigenen Weg gehen, hatte er ihn damals nach Chur ziehen lassen. Schweren Herzens zwar, aber nicht ohne Hintergedanken. Denn als einer von Eschenbachs Bereichsleitern Ende des vergangenen Jahres pensioniert worden war, holte er Claudio zurück nach Zürich. Er gab ihm den Job, und mehr noch: Er machte Jagmetti zu seinem Stellvertreter.
Das System, in dem Dienstjahre mehr wogen als Leistung, schien damit aus den Fugen geraten zu sein. Auch heute noch, fünf Monate nach Verkündigung dieser Sensation, gab es eine Reihe von Beamten, die Eschenbach deshalb die Krätze an den Hals wünschten. Und so, wie er im Moment aussah, dachte der Kommissar, waren sie einigermaßen erfolgreich gewesen.
»Der Junge ist weg«, sagte Jagmetti leise. Sein Blick hing ausdruckslos an den Küchengardinen.
»Wie bitte?« Eschenbach riss die Augen auf. Mit einem Schlag war er hellwach. »Sag das noch einmal.«
»In diesem Heim in Stäfa … Also offenbar hat ihn dort jemand abgeholt. Gestern Abend. Jedenfalls sagt das der Heimleiter. Bangerter heißt der … Und eigentlich habe ich gehofft, du wärst das gewesen.«
»Bist du wahnsinnig?«
»Es war jemand von der Polizei, sagen die dort. Ich hab dich gleich angerufen, aber du hast dich nicht gemeldet.«
»Herrgott«, entfuhr es Eschenbach.
»Aber das ist noch nicht alles. Kobler ist ziemlich aufgebracht wegen allem. Um ehrlich zu sein, sie hat getobt.«
»Und?«
Claudio fingerte an der Kaffeetasse, setzte zu einem Schluck an und ließ es dann doch bleiben. Zweimal räusperte er sich. Sagte »Also« und »Ähm«.
»Mach’s kurz, Claudio. Ich bin einiges gewohnt.«
Jagmetti streckte den Hals. »Du bist raus, hat sie gesagt.«
»Ach so.« Eschenbach schluckte. Dann erhob er langsam die Stimme: »Und aus was bin ich raus, wenn ich fragen darf?«
»Du sollst dich erholen. Ferien …« Claudio stockte. »Und ich soll vorübergehend einspringen, verstehst du? Bis es dir wieder bessergeht.«
»Den Sechseläuten-Fall?«
»Nicht nur«, Claudio räusperte sich. »Alles, hat sie gesagt. Ich soll dich quasi ad interim vertreten … Vorübergehend natürlich … das war meine Bedingung. Vorübergehend, sonst käme es nicht in Frage.«
»Sehr witzig, Claudio.«
»Sie will dich sehen.«
»Wann?«
»Um zehn.«
Eschenbach sah auf die Uhr. »Das ist in einer Stunde.«
Claudio nickte. »Eigentlich bin ich gekommen, um dich abzuholen.«
Eschenbach blinzelte. »Für ein Meeting mit Kobler? Das hättest du mir gleich sagen können«, schnauzte der Kommissar. Er trank den Espresso in einem Schluck, dann nahm er seine Krücken: »Ich geh noch kurz ins Bad.«
Was lief schief? Der Kommissar sah nicht klarer, als er in denSpiegel blickte, den kalten Waschlappen auf seine Stirn drückte und sich danach wusch. Keine Ahnung, wohin man den Kleinen gebracht hatte, den Jungen, den Lara Bischoff offenbar nicht kennen wollte. Und Salvisberg, weshalb meldete sich der Pathologe nicht? Hoffentlich hatte Kobler Antworten auf diese Fragen. Und Gründe, warum sie ihn aus
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