Sechselauten
Eschenbach. »Das ist Ihr Testat für den Grundkurs Erste Hilfe . Können Sie mir das bestätigen, Herr Kommissar?«
»Wenn es da steht.«
»Schauen Sie bitte auf das Datum. Es steht ganz unten links.« Kronenberger machte eine Pause. »Sehen Sie? Es ist nun schon zwölf Jahre her, dass Sie diesen Kurs besucht haben. Ein jüngeres Testat haben wir leider nicht gefunden.«
»Diese Kurse sind Pflicht«, sagte Kobler.
»Wie wollen Sie da heute noch in der Lage sein, Leben zu retten?«, fragte der Anwalt. »Ich meine, zwölf Jahre. Das isteine lange Zeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man da mit seinem Wissen noch à jour ist.«
Nach einem kurzen, zögerlichen Blickwechsel mit seiner Chefin erwiderte der Kommissar: »Nachher ist man immer klüger. Aber wenn Sie mir hier weismachen wollen, ich hätte da einfach tatenlos zusehen müssen …«
»Wir wollen gar nichts«, sagte der Anwalt in beschwichtigendem Tonfall. Wieder nahm er das Protokoll zur Hand: »Aber es waren durchaus kompetente Leute vor Ort, die zu professioneller Hilfe in der Lage gewesen wären, wenn Sie sich nicht derart aufgespielt hätten. Dr. Lawatzky zum Beispiel. Stationsarzt am Unispital Balgrist.« Kronenberger zitierte, was der Arzt zu Protokoll gegeben hatte: »Als ich zur Unfallstelle kam, da hatten sich bereits zwei Kollegen um die Verletzte gekümmert. Niemand sagte etwas oder bat um Hilfe.« Mit einem Seufzer ließ Kronenberger das Protokoll sinken und sah den Kommissar an: »Mit Kollegen meinte Dr. Lawatzky Berufsgenossen, Herr Eschenbach. Denn aufgrund Ihres Verhaltens, da musste er annehmen, Sie wären das. Tragisch, wirklich tragisch … Übrigens gibt es neuerdings Defibrillationsgeräte am Bellevue.«
»Sie haben mich maßlos enttäuscht, Eschenbach«, sagte Kobler und wandte sich an den Anwalt: »Zeigen Sie ihm die E-Mail.«
Wieder glitt ein Blatt Papier über den Couchtisch zu Eschenbach, und der Anwalt meinte mit nichtssagendem Lächeln: »In dieser Mitteilung wurden alle Angehörigen des Polizeidienstes auf die Defibrillationsgeräte hingewiesen. Standorte, Handhabung et cetera.«
»Ich habe das nie gesehen«, murrte der Kommissar. »Und ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, warum ich mir das alles anhören muss.« Er stand auf.
»Setzen Sie sich.« Kobler klang ernsthaft verärgert.
Eschenbach blieb stehen.
»Diese E-Mail wurde Ihnen zugestellt …« Der Anwalt nannteAbsender, Datum und Zeit. »Aber sie wurde gelöscht. Ungelesen, wie andere übrigens auch.«
Der Kommissar wunderte sich, woher der Anwalt diese Informationen hatte.
»Das ist einfach unglaublich. So kann es doch nicht weitergehen.« Kobler seufzte.
»Wenn Sie Ihre E-Mails nicht lesen, dann ist das eine Sache«, sagte Kronenberger. »Wenn Sie aber durch Inkompetenz und großspuriges Auftreten lebensrettende Maßnahmen fehlerhaft ausführen – in diesem Fall sogar behindern –, dann sind dies schwerwiegende Verstöße.«
Eschenbach schwankte etwas, mit dem ganzen Gewicht auf seinem unverletzten Fuß, und sah wie ein Habicht auf Kobler und Kronenberger hinunter. »Wenn Sie mir jetzt bitte erklären könnten, was Sie mit diesem ganzen Theater bezwecken? Es gibt Dutzende von E-Mails täglich. Möglich, dass ich gerade diese übersehen habe. Das geht, glaube ich, fast allen so. Und vielleicht habe ich auch nicht alles richtig gemacht. Möglich ist es ja. Aber wenn Sie mir die Schuld am Tod Ihrer Mandantin geben wollen … Wenn Sie tatsächlich dieser Auffassung sind, Herr Kronenberger, dann müssen Sie mich verklagen. Dafür gibt es Gerichte.«
»Das wollen wir eben vermeiden«, erwiderte Kobler entschieden.
Kronenberger seufzte zustimmend.
Nachdem sich Eschenbach wieder hingesetzt hatte, hörte er sich schweigend an, was Kobler zu sagen hatte.
»Ich werde Sie vorläufig suspendieren, Eschenbach.« Und
zu Kronenberger gewandt, meinte die Polizeichefin: »Selbstverständlich werden wir auch eine interne Untersuchung anstellen, allenfalls weitere Maßnahmen treffen, um dem Anliegen Ihrer Mandantin Rechnung zu tragen. Kurzum, wir werden alles tun, damit diese Angelegenheit zu keinem Rechtsstreit führt.«
»Ich werde das mit meiner Mandantin besprechen«, sagte derAnwalt nachdenklich. »Einfach wird es allerdings nicht werden.«
»Tun Sie das bitte.« Kobler schien besorgt.
Eschenbach stand auf, nahm seine Krücken und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro.
9
E inen Tag nach dem Sechseläuten, am Dienstagnachmittag um halb vier, saß
Weitere Kostenlose Bücher