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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Lara Bischoff am Schreibtisch, in ihrer Suite im Hotel Widder am Rennweg, und starrte auf ihren Laptop. Zu ihrer großen Überraschung war es kein Dokument, das auf der CD gespeichert war.
    Es war ein MP 3 -File. Lara klickte es an. Was um alles in der Welt hatte ihr Charlotte hinterlassen?
    Am Abend, als sie in Wädenswil gewesen war, in Charlottes Wohnung, da hatte sie den Umschlag entdeckt. Während sie auf Charlotte wartete, war sie unruhig durch die Wohnung getigert. Er hatte auf dem kleinen Sekretär beim Eingang gelegen. Für Lara . In Charlottes Handschrift.
    Lara hatte das Kuvert eingesteckt, in die Innentasche ihres Mantels, noch bevor die Sache mit diesem Polizisten passiert war. Ein Glück, denn zurück in die Wohnung war sie seither nicht mehr gegangen.
    Das Medienprogramm ihres Computers startete.
    Der Lautsprecher knackte.
    Ein paar Sekunden geschah nichts, dann ertönte eine Männerstimme: »Also wir fangen an. Schießen Sie los!«
    Lara zuckte zusammen. Sie hatte den tiefen, rauchigen Bariton sofort wiedererkannt. Es war die Stimme ihres Vaters.
    Lara saß wie versteinert vor dem Computer. Das Rascheln von Papier war zu hören.
    »Sie können jetzt sprechen«, sagte ihr Vater.
    Wieder raschelte es. »Ich darf doch ablesen?«, fragte eine zweite Stimme. Auch ein Mann. Und wie Laras Vater sprach er Deutsch – allerdings mit einem starken Schweizer Akzent.
    »Sicher können Sie es ablesen.«
    »Also.« Der Mann, dessen Stimme Lara nicht kannte, räusperte sich. »Ich habe keine Überschrift. Soll ich kurz sagen, worum es geht?«
    »Lesen Sie einfach«, erwiderte ihr Vater. »Erzählen Sie, was Sie herausgefunden haben. Es ist ja eine Art Forschungsbericht … Das können wir ruhig so sagen, nicht wahr? Wir werden’s dann schon ins Reine bringen. Keine Sorge. Schreibkräfte habe ich genug.« Laras Vater lachte.
    »Es geht also um die Versorgung der weggenommenen Kinder«, sagte der Mann.
    »Genau.«
    »Aus den Unterlagen und Darstellungen, die ich gefunden habe, wird ersichtlich … [Rascheln] – ich überlasse Ihnen dann das ganze Material. Ist Ihnen das recht?«
    »So haben wir es vereinbart.«
    Es raschelte wieder. Dann fing der Mann, dessen Stimme Lara nicht kannte, an zu sprechen; er las vor.
    [Der Fremde]: Also. In der Zeit von 1926 bis 1973 hat das » Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse« über 600 jenische Kinder ihren Eltern und Verwandten weggenommen. Man wollte sie Sippe, Kultur und Tradition entfremden. Ich sag das einfach nochmals als Einleitung, damit man weiß, um was es hier geht.
    [Laras Vater]: Das ist gut so, erzählen Sie weiter.
    [Der Fremde]: Man hat die Kinder nicht zentralisiert in speziellen Anstalten versorgt, wie das bei früheren Maßnahmen zur Bekämpfung der Vagantität mit Hilfe von Kindswegnahmen der Fall gewesen war. So hätten die Eltern ihre Kinder ja leicht wiederfinden können. Aber im Seilergraben in Zürich, dem langjährigen Sitz des Pro-Juventute-Zentralsekretariats – gleichzeitig die Adresse des Hilfswerks –, fanden die Eltern ihre Kinder nicht. Siegfried hat sehr bewusst Lehren gezogen aus früheren Umerziehungsversuchen an Kindern von Fahrenden.
    [Laras Vater]: Dr. Alfred Siegfried war in den Jahren 1926 bis 1959 für das Hilfswerk verantwortlich. Er war zudem der Leiter der Pro-Juventute-Abteilung »Schulkind«.
    [Der Fremde]: Das steht alles in den Unterlagen. Hätte ich es besonders erwähnen müssen? [Rascheln]
    [Laras Vater]: Nein, ich sag’s nur der Vollständigkeit halber. Machen Sie ruhig weiter.
    [Der Fremde]: Also gut. In den »Mitteilungen des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse« vom September 1942 schreibt ebendieser Siegfried unter dem Titel »Aufbauende Fürsorge«, dass » man es sehr oft unterlassen habe, den Eltern die elterliche Gewalt zu entziehen … mit dem Erfolg, dass diese jungen Menschen bald vollständig von den Sitten und Gebräuchen des fahrenden Volkes eingefangen wurden und den Weg ihrer Eltern gingen. Ein Psychiater, der sich mit Hunderten von Fahrenden abgegeben hat, fasst seine Meinung folgendermaßen zusammen: ›Das Zusammensein eines Kesslerkindes mit seinen Eltern kann in einer Stunde niederreißen, was in Jahren mühsam aufgebaut worden ist.‹ Eine fünfzehnjährige Erfahrung mit vielen hundert solchen Kindern hat uns davon überzeugt, dass dieser Ausspruch das Richtige trifft.«
    Dasselbe wiederholt er dann in den » Mitteilungen« vom September 1943 im Artikel » Warum befasst sich Pro

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