Second Face
macht sich auf den Rückweg. Zum ersten Mal seit Langem hat sie einen Nachmittag verbracht, ohne auch nur einmal an Lirim zu denken.
Anne ist schon da, als sie zu Hause ankommt.
»Wo warst du nur so lange? Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«
Marie zuckt mit den Schultern. »Nur so mit dem Fahrrad herumgefahren.« Sie wird Anne nichts von Arabella erzählen und erst recht nichts von Tom. So wie Anne im realen Leben herumspielt, so wird Marie das ab heute im virtuellen Leben tun. Aber davon muss die Schwester nichts wissen. Sie würde es doch nicht verstehen.
Als Anne nach dem Abendessen fragt, ob sie noch ausreiten wollen, schüttelt Marie den Kopf. »Ich muss noch lernen«, sagt sie und verlässt ganz schnell den Raum.
Anne schaut ihr verwundert nach.
Marie aber hängt ein Schild »Bitte nicht stören!« außen an ihre Zimmertür, was sie noch nie gemacht hat, und loggt sich erneut bei Second Life ein. Bis tief in die Nacht hinein lässt sie Arabella durch die neue Welt laufen und fliegen, übtsitzen und stehen und tanzen und landen. Ihre Finger werden immer sicherer, auch wenn sie noch lange nicht so schnell über die Tasten flitzen wie Toms.
Arabella braucht ein Pferd, denkt sie. Schließlich ist sie doch das virtuelle Ich von Marie. Hoffentlich gibt es hier Pferde. Sie wird Tom gleich morgen fragen.
15
Drei Abende bis tief in die Nacht hinein übt Marie. Das Einloggen geht schon ganz flott. Das Gehen und Fliegen auch. Ein paarmal hat sie Tom um Hilfe gebeten, der sich jedes Mal viel Zeit genommen und ihr alles geduldig erklärt hat.
»Was sagt denn die Drama-Queen, wenn du mich besuchst?«
Marie grinst ein wenig verlegen. »Die weiß davon gar nichts. Und das soll sie auch nicht. Die würde es nicht verstehen und ... außerdem mag sie …« Marie beißt sich erschrocken auf die Lippen.
»Schon klar. Sie mag mich und die anderen Ummanzen, so nennt ihr uns doch?, immer noch nicht. Keine Sorge, es gibt Schlimmeres. Wir mögen sie ja auch nicht. Ich werde nie begreifen, wie Zwillinge so verschieden sein können.«
»Aber du darfst ihr nichts sagen!«
»Du hast doch nicht etwa Angst vor ihr?!«
»Nee! Aber ich habe keinen Bock auf Stress und ewige Diskussionen. Das geht sie nichts an!«
»Ach ja, unsere Drama-Queen! Aber keine Sorge. Von mir erfährt sie nichts!«
Dann fühlt sich Marie fit für den nächsten Schritt. Sie will ihr Aussehen ändern. Richtig schicke Klamotten anziehen, damit Arabella ein unverwechselbares Aussehen erhält.
Doch als sie Tom anruft, hat er zu ihrer Enttäuschung keine Zeit. Er macht im nächsten Jahr sein Abi und muss für die letzten Klausuren üben.
»Das schaffst du auch alleine!«, meint er. »Außerdem gibt es im SL immer hilfsbereite Menschen. Schau dich mal inWelcome Island um. Da stehen oft Avatare, die sich auskennen und den Neuen helfen. Sprich einfach einen an.«
Und genau da hat Marie noch ein Problem. Bislang ist sie stumm durch die neue Welt geflogen. Manchmal hat jemand sie angesprochen. »Hey. How are you?«
Aber sie hat nie geantwortet. Obwohl sie ja weiß, wie es geht.
»Wovor hast du Angst? Du musst es einfach tun. Keiner wird dich auslachen. Im Gegenteil. Hilfsbereitschaft ist ein Muss für alle Avatare.«
»Hast du nicht doch eine Stunde Zeit? Heute Nachmittag?«
»Sieht ganz schlecht aus heute. Tut mir wirklich leid, ich würde dir sehr gerne helfen.« Er überlegt einen Moment. Dann sagt er zu Maries Freude: »Versuch es einfach. Und wenn du gar nicht klarkommst, ruf an und wir werden sehen. Eine halbe Stunde ist vielleicht drin.«
Aber dann geht tatsächlich alles ganz einfach. Kaum hat sich Marie eingeloggt und irrt als Arabella ein wenig planlos in dem großen Iglu umher, da nähert sich auch schon ein Avatar mit schwarzen langen Haaren.
»Kann ich helfen?«
Was jetzt tun? Wie geht das noch? Alles vergessen.
Marie wird immer hektischer. Gleich geht er weg, wie die anderen in den Tagen vorher, weil sie nicht antworten konnte. Und dann wird sie sich wieder ärgern.
Aber dieser Avatar bleibt geduldig stehen.
»Du bist wohl neu hier?«, schreibt er. »Wenn du antworten willst, musst du ...«
Dankbar folgt Marie seinen Anweisungen und tatsächlich sie kann ihren ersten Dialog starten.
»Hallo! Ich bin Arabella.«
»Schön, Arabella. Und ich bin Tarao.«
Wie blöd von ihr. Was muss der von ihr denken? Der Name steht über dem Kopf jeden Avatars. Und dieser Tarao hat natürlich gewusst, wie sie heißt, sie hätte es nicht sagen
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