Second Face
möchte sie sich eigentlich nicht mehr. Das ist sie ja schließlich noch, wenn auch ohne Aussicht auf Erfüllung.
Sie liest weiter:
SECOND LIFE: DER ORT DER UNENDLICHEN MÖGLICHKEITEN. SIE KÖNNEN DIE WELTZU FUSS, IN EINEM FLUGZEUG ODER AUF EINEM FLIEGENDEN TEPPICH ERKUNDEN. SIE KÖNNEN AUCH IN EINEM PIRATENSCHIFF SEGELN ODER EINFACH DIE ARME AUSBREITEN UND SELBER FLIEGEN.
»Na, spannend?«
»Das ist ja doch nur ein Spiel!«, sagt Marie ein wenig enttäuscht.
»Es ist kein Spiel!« Auch wenn Tom sie dabei anlächelt, merkt sie an seiner Stimme, dass er verärgert ist. »Lies einfach weiter.«
MILLIONEN MENSCHEN AUS DER GANZEN WELT SIND IN SECOND LIFE ZU HAUSE. UND JEDER EINZELNE VON IHNEN KONNTE DEIN NEUER FREUND SEIN. DU HAST DIE AUSWAHL.
Ein Werbeslogan. Mehr nicht. Maries Enttäuschung wächst.
Aber sie tut so, als wäre sie begeistert. Etwas lustlos liest sie die nächsten Slogans, bis sie auf die Worte stößt:
ÄNDERE DEIN AUSSEHEN!
ÄNDERE DICH!
SEI ANDERS!
BEFREIE DICH!
Das ist es, denkt Marie. So sein wie Anne. Rumspielen, obwohl einem zum Heulen zumute ist. Frei sein von Sehnsucht, frei sein von Trauer, einfach neu anfangen.
»Und nun such dir einen Avatar aus.«
»Avatar?«
»Sozusagen dein zweites Ich. Die Figur, mit der du durch Second Life spazierst. Mit ihr werden deine Träume Wirklichkeit. Du erlebst Abenteuer, hast Spaß, kannst dich neu verlieben. Und das alles ohne die dunklen Gefühle, die unser erstes Leben so ätzend machen. Avatare können nicht sterben, nicht krank werden und keine Schmerzen empfinden,sie sind unverletzbar. Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist ein Netzausfall und du fliegst raus. Aber du kannst dich jederzeit wieder neu einloggen. Dein Avatar wartet an dem Ort, an dem du ihn verlassen hast.«
Toms Begeisterung schwappt langsam auch auf Marie über. Man kann sich verlieben und wieder trennen. Es tut nicht weh. Das gefällt ihr.
Acht Figuren stehen zur Auswahl, vier männliche Wesen und vier Frauen.
»Du kannst auch als Mann im Second Life leben. Alles kein Problem. Es gibt keine Grenzen.«
»Danke, aber das ist dann doch zu viel an Veränderung.« Sie sucht aus den Figuren eine junge Frau aus: groß, etwas dürr, weiße Bluse mit Stehkragen, dünne lange Beine, die in schwarzen Jeans stecken.
Ein bisschen enttäuscht ist Marie schon. »Eigentlich ist so gar nicht mein Typ dabei. Und die sehen auch so unecht aus.«
»Das sind ja auch nur die Prototypen. Du kannst gleich alles ändern. Du kannst sogar ein Foto von dir auf den Avatar kopieren, dann sieht er aus wie du.«
Arabella. Aus der alphabetischen Liste sucht sie den Familiennamen Aria heraus. Zur Registrierung gehören auch eine Angabe der E-Mail-Adresse und ein Geburtsdatum.
»Wieso das denn?«
»Na ja, die wollen eigentlich, dass man achtzehn ist. Aber keiner überprüft das. Für Teenies gibt es ein eigenes Second Life, aber glaub mir, das wirkliche Leben geht hier ab.«
»Und wenn es auffällt?
»Ich bin achtzehn und dann sag ich einfach, du warst die ganze Zeit in meiner Begleitung. Geht doch im realen Leben auch. Im Restaurant dürfen auch Kinder abends in Begleitung von Erwachsenen essen. Oder?«
Klingt logisch. Marie ist einverstanden, auch wenn sieahnt, dass die Betreiber von Second Life das anders sehen würden. Aber Second Life für Teenies klingt wirklich nicht so spannend.
Tom lädt die Software herunter.
»Und nun geht es los. Siehst du den Knopf da?«
Marie nickt. Ihr Herz klopft.
»Join now!« steht darauf.
Sie holt Luft und klickt ihn an.
»Willkommen in deinem neuen Leben, Arabella!«, sagt Tom und strahlt sie an.
Marie starrt auf ihren Bildschirm.
»Deine Arabella, dein Avatar, dein zweites Ich.«
TRETEN SIE GRUPPEN BEI
FINDEN SIE LEUTE MIT DEN GLEICHEN INTERESSEN! IN SECOND LIFE GIBT ES TAUSENDE VON GRUPPEN, DIE VON EINWOHNERN GEGRÜNDET WURDEN. HIER FINDEN SIE ALLES MÖGLICHE: VON NINJAS BIS ZU LESECLUBS. SIE HABEN NOCH KEINE GRUPPE GEFUNDEN, DIE IHNEN GEFÄLLT? GRÜNDEN SIE IHRE EIGENE GRUPPE UND BAUEN SIE IHRE EIGENE SECOND LIFE COMMUNITY AUF.
Das klingt fantastisch. Aber nun steht Marie, das heißt Arabella, erst mal in einem Raum, der in bläuliches Licht getaucht ist und wie ein riesiger Iglu aussieht. Welcome Island heißt der Ort, an dem alle neuen Avatare zunächst landen.
Marie schaut sich um und muss feststellen, dass außer ihr niemand im Raum ist. Wo sind die Millionen anderer Avatare, die sich angeblich hier tummeln und nur auf sie gewartet haben,
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