Second Face
um Freundschaft zu schließen?
»Niemand da?«, sagt Marie und schaut Tom fragend an, der neben ihr sitzt.
»Wenn du dich erst mal auskennst, wirst du auch nicht mehr hier herumlaufen. Die anderen sitzen in Konferenzräumenoder in irgendwelchen Bars oder machen ’ne Grillparty mit Freunden. Du musst jetzt erst mal lernen, wie man sich bewegt und wie man mit anderen kommuniziert.«
Der blaue Iglu ist in verschiedene Bereiche aufgeteilt. In jeweils Zehn-Minuten-Einheiten werden erste Grundkenntnisse im virtuellen Leben vermittelt. Ohne die würde der Avatar nur dumm herumstehen.
Während Tom geduldig neben ihr sitzt und nur eingreift, wenn Marie nicht weiterkommt, folgt sie den Anweisungen der freundlichen Dame aus dem Computer.
Sie lernt mithilfe der Pfeiltasten vorwärts, rückwärts und seitwärts zu gehen, die Kamera zu bedienen, mit deren Hilfe man alles ganz dicht heranzoomen kann. Sie lernt zu sitzen und wieder aufzustehen. Sie lernt, dass es zwei Arten gibt, um sich mit den anderen Avataren zu unterhalten. Wenn man einen normalen Chat führt, kann man alles, was der andere sagt, beziehungsweise tippt, im Umkreis von dreißig Metern mithören. Will man ganz private Sachen besprechen, dann gibt es die IMs (Instant Messages), die nur von den beiden beteiligten Personen verstanden werden.
»Und alles ist stumm?«, fragt Marie etwas enttäuscht. »Das ist ja nicht anders als bei Facebook.«
»Du kannst ein Headset aufsetzen und dann hörst du die realen Person reden und siehst dabei ihren Avatar. Über deinen Lautsprecher kannst du auch Musik hören, in Konzerte gehen oder einen Kurs der Volkshochschule besuchen. Manche Firmen halten in einem virtuellen Raum Konferenzen ab. Da sitzen die Mitarbeiter an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt, ihre Avatare treffen sich aber hier in einem Raum und sie reden mit ihren realen Stimmen. Das ist billiger, als wenn die Mitarbeiter der realen Welt ein Meeting hätten.«
Marie schwirrt der Kopf. Das hört sich schon sehr verrückt an. Erwachsene Männer, die ihre virtuellen Püppchen in virtuellenKonferenzräumen sitzen haben, um Probleme der realen Welt zu besprechen. Aber das sagt sie lieber nicht laut, denn Tom redet sich immer mehr in Begeisterung.
»Nun kommt das Beste«, sagt er. »Gehen ist gut für kurze Entfernungen, aber in Second Life geht es um große Entfernungen. Und da fliegt man.«
Die nächste Viertelstunde lernt Marie zu fliegen und vor allem zu landen. Ein paarmal landet sie mit ihrer Arabella auf dem Bauch, bis sie die Tasten beherrscht.
Dann fliegt sie über ein Meer, auf dem Segelboote schwimmen, über den Strand mit den vielen anderen Avataren, die dort in der Sonne dösen. Auf den mit Schaum bedeckten Wellen im Meer unter ihr hüpfen Delfine und etwas weiter schimmern die dunklen Buckel von Walen. Einmal landen sie in einem Dschungel voll mit tropischen Blüten und herumsirrenden grellbunten Kolibris.
Es ist alles irreal, sagt sich Marie immer wieder und doch ist es so real, dass sie meint, das Rauschen des Meeres zu hören und den Duft der Blüten zu riechen.
Um noch schneller von einem Ort zum anderen zu gelangen, kann man sich teleportieren, das ist eine Art beamen. Ein Knopfdruck und Arabella ist an dem Ort, den sie sich vorher auf der großen Karte ausgesucht hat. Mit wachsender Begeisterung teleportiert sich Marie als Arabella von den Wipfeln der höchsten Berge auf kleine Inseln im Meer, vom virtuellen Berlin nach Tokio und Hollywood.
»Hab ich dir doch gesagt: Es gibt keine Grenzen, außer denen, die du dir selber setzt.« Tom freut sich über Maries Begeisterung.
»So, und nun können wir deinen Avatar verändern. Haare, Kleidung, Haut. Du kannst ganz neu werden. Ich würde dir zu Primhaaren raten.«
»Prim?«
»Das ist wie eine Perücke, die du immer wieder neu gestalten kannst. Wenn man viel Geld hat, kann man sich sogar sein eigenes Foto auf den Avatar projizieren oder das von anderen Personen. Fotorealistisch heißt das. Willkommen im Schlaraffenland. Gestalte deine Traum, Marie … äh … Arabella.«
Marie schwirrt der Kopf. »Könnte ich nicht erst mal so rumlaufen ohne Prim und so …? Ich muss das Chatten und das Teleportieren üben. Für heute reicht es.«
Tom nickt. »Du hast recht. Es war schon ein bisschen viel für den Anfang. Ich habe Tage dafür gebraucht, bis ich mich alleine da durchgewühlt habe. Du übst einfach, und wenn du dich sicher fühlst, dann machen wir weiter.«
Marie packt ihren Laptop ein und
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