Seefeuer
Uhr dreißig würde sich die
Rotationsmaschine in Bewegung setzen, bis dahin musste unwiderruflich jeder
Artikel bis auf die letzte Zeile recherchiert, geschrieben, redigiert und in
den technischen Abteilungen produziert worden sein, sonst geriet der ganze
Apparat ins Stocken, und diese Schuld – im Zeitungsgewerbe einer Todsünde
gleich – mochte niemand auf sich laden.
Besondere Geschäftigkeit herrschte in der
Lokalredaktion, was vor allem an den bevorstehenden Gemeinderatswahlen lag.
Rechnete man noch die vier Verkehrsunfälle und die zwei Ladendiebstähle, das
vor der Tür stehende Promenadenfest und die am kommenden Wochenende beginnende
Tagung der Nobelpreisträger hinzu, wurde die Hektik der Redakteure vollends
verständlich.
Karin Winter war da keine Ausnahme. Doch anders als
viele ihrer Kolleginnen und Kollegen empfand sie die Redaktionsatmosphäre vor
der umfangreichen Samstagsausgabe als anregendes Lebenselixier. Gerade legte
sie den Hörer auf, um sich voller Elan wieder ihrem Text auf dem Monitor zu
widmen, als Chefredakteur Matuschek vor ihr aus dem Boden wuchs.
»Mach dich frei, Karin, ich hab was Besseres für
dich«, sagte er bestimmt. Konsterniert hob Karin den Kopf, sodass er schnell
hinzufügte: »Nein, nicht so, wie du denkst.« Grinsend legte er ein Blatt vor
sie hin. »Hier steht alles drauf.«
»Und wer übernimmt die Nobelpreisträger?«
»Such dir jemand aus. Das hier ist wichtiger.«
Ehe Karin sich eine Antwort überlegen konnte, eilte
Matuschek wieder in sein Büro zurück. Wütend nahm sie das Papier in die Hand.
Der Text darauf war an Dürftigkeit nicht zu überbieten. Es handelte sich um
eine kurze Mitteilung der Polizei über eine am Seeufer bei Spetzgart
aufgefundene Mädchenleiche, bekleidet mit einem Taucheranzug. Das Mädchen hieß
Tamara Reich, war fünfzehn Jahre alt und Schülerin am Bodensee-Internat.
Todesursache unbekannt.
Was sollte das? Diesen Fünfzeiler – mehr würde die
Nachricht kaum hergeben – konnte ebenso gut jeder andere schreiben. Warum
ausgerechnet sie?
Wenn Matuschek glaubte, damit durchzukommen, hatte er
sich geschnitten. Wütend eilte sie ihm nach. Ohne anzuklopfen, stürmte sie in
sein Büro und knallte ihm das Blatt auf den Schreibtisch.
Jörg Matuschek, ein dynamischer, stets jovial
wirkender Kahlkopf Anfang vierzig und seit fünf Jahren von Verlagsleitung und
Mitarbeitern als kompetenter, umsichtiger und fairer Chefredakteur geschätzt,
verlor nicht so schnell die Nerven.
»Ich versteh ja, dass dir die Unterbrechung gegen den
Strich geht, Karin. Aber du kriegst das schon hin. Lass die Henschel deinen
Beitrag über die Nobelpreisträger auf der Mainau fertig machen. Notfalls
verschieben wir ihn auf Montag.«
»Was ist so wichtig an dem hier? Sag’s mir, ich
versteh’s nicht. Jeder Volontär kann daraus einen einspaltigen Einklinker
machen. Warum ich? Ich stecke mitten in einer anderen Sache, meine Notizen kann
niemand sonst lesen, ganz zu schweigen von dem, was ich dazu im Kopf habe.«
»Tut mir leid, ich kann’s nicht begründen. Es ist nur
so ein Gefühl … dass da mehr dahinterstecken könnte, als die karge Mitteilung
vermuten lässt.«
Nicht zum ersten Mal ließ sich Matuschek von seinem
Gefühl leiten, und Karin musste zugeben, dass es ihn bisher selten getrogen
hatte. Deshalb steckte sie etwas zurück.
»Und was genau stellst du dir vor?«
»Liebste Kollegin, das muss ich dir ja wohl nicht sagen – ausgerechnet dir ! Ruf
deinen Freund Wolf von der Kripo an …«
»Er ist nicht mein Freund!«
»Dann stell dich halt in Zukunft ein bisschen
geschickter an«, beschied er sie spöttisch.
Karins Antwort fiel heftiger aus als beabsichtigt. »Du
bist und bleibst ein Arsch!« Wütend zog sie ab und knallte demonstrativ die Tür
hinter sich zu – wohl wissend, dass Matuschek das gelassen aufnahm. Sie hatte
längst angebissen, und er kannte sie gut genug, um sich dessen sicher zu sein.
***
Hans-Gerd
Weselowski saß wie jeden Freitagnachmittag an seinen Operationsberichten, als
er aus seinem Vorzimmer plötzlich erregte Stimmen vernahm. Gleich darauf wurde
die Tür aufgerissen, und ein Mann stürmte herein, gefolgt von Weselowskis
Sekretärin.
»Ich rate dir, pfeif deinen Vorzimmerdrachen zurück!«,
bellte Hartmut Pohl mit hochrotem Kopf.
Die Sekretärin war bemüht, Haltung zu bewahren, konnte
ihren Unmut aber nicht verbergen. »Ich hab alles versucht, Chef, aber er ist
einfach durchmarschiert«, rief sie aufgebracht.
»Es
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