Seegrund
geduckten Häuser, wie sie früher fürs Allgäu typisch gewesen waren: ein langes Haus, nur ein Riegel, Wohnhaus, Tenne und Stall, alles unter einem weit überstehenden Dach. Normalerweise waren diese Hofstellen mit Holzschindeln verkleidet. An dem vor Kluftinger und Steinle auftauchenden Gebäude aber prangten graue, verwitterte Eternit-Platten.
Kluftinger stellte seinen Wagen vor dem Tennentor ab – hier endeten die Traktorspuren, die sich von unten an durch den Schnee gezogen hatten, und ein schmaler Trampelpfad begann.
»Martl?«, rief Steinle, als er und Kluftinger bereits im Hausgang standen. Niemand gab Antwort, deshalb klopfte Günther Steinle an die erste Tür, die vom Hausgang aus nach rechts abzweigte.
Sie traten in eine überheizte Stube, deren Deckenhöhe höchstens einen Meter neunzig betrug. Um durch die Tür zu kommen, musste sogar Kluftinger den Kopf einziehen. An einem alten Resopal-Esstisch schlief, den Kopf auf die Tischplatte gelegt, ein etwa siebzig Jahre alter Mann. Vor ihm stand eine Schüssel mit Resten einer Kartoffel- oder Gemüsesuppe, ein Kreuzworträtsel lag aufgeschlagen daneben. Aus einem Kofferradio plärrte Schlagermusik.
»Martl!«, schrie Steinle dem Mann ins Ohr und der Alte schreckte hoch. Prüfend musterte er seine Besucher. »Ich hab jemanden mitgebracht, Martl«, sagte Steinle und sprach dabei sehr laut und deutlich, als hätte er Angst, der Alte könne ihm sonst nicht folgen. »Der Herr Kluftinger ist Kriminalkommissar bei der Kemptener Polizei. Ich hab ihm von dir erzählt. Er möchte alles wissen, was du über den Alatsee weißt. Du kannst ihm bei der Aufklärung eines …« Steinle wandte den Kopf und blickte zu Kluftinger. Dann vollendete er seinen Satz: »… Verbrechens helfen.«
Kluftinger hatte sich derweil in dem kleinen Wohnzimmer umgesehen: Links neben der Tür stand ein grüner Kachelofen; kein alter, sondern einer aus den siebziger Jahren, der so gar nicht zu der rustikalen, originalen Kassettendecke passen wollte. Auf zwei Holzstangen über dem Ofen hingen Socken und Unterwäsche zum Trocknen. Die Unordnung deutete darauf hin, dass Martin Bartenschlager, wie der Mann laut Türschild mit vollem Namen hieß, allein wohnte. Was Kluftinger allerdings befremdete, war die Tatsache, dass im ganzen Zimmer alte, vergilbte Zeitungen herumlagen. Auch aus einer kirschfarbenen Sechzigerjahre-Schrankwand, deren Türen offen standen, quollen ausgeschnittene Zeitungsartikel. Die Wände zierten fast lückenlos Blätter mit aufgeklebten Zeitungstexten und den dazugehörigen Fotos. Viele der Artikel waren mit handschriftlichen Notizen ergänzt, manches war durchgestrichen, anderes farbig hervorgehoben. Immer wieder tauchten in den Überschriften die Worte »Weltkrieg« oder »Nationalsozialismus« auf. Kluftinger bekam es fast ein bisschen mit der Angst zu tun: Die beklebten Wände sahen aus wie das Werk eines schwer gestörten Menschen.
»Hör auf, Günther!«, begann der auf einmal krächzend zu schimpfen. »Ich bin ein alter Mann, also haltet’s mich nicht zum Narren!«
Kluftinger sah ihn sich genauer an: Der dürre Mann wirkte zerbrechlich, ja ausgemergelt. Tiefe Furchen hatten sich in die lederne Haut seines Gesichts eingegraben. Die langen, grau-melierten Augenbrauen waren zu einem buschigen Bogen zusammengewachsen. Bartenschlager trug ein blau kariertes Hemd, darüber eine braune Weste aus Cord, die mit hellem Webpelz gefüttert war. Sein Haar hing wirr unter einer knallroten Baseballkappe heraus.
»Martl, jetzt hör halt mal zu! Am Alatsee hat man …« Steinle unterbrach seinen Satz, blickte noch einmal zum Kommissar und fuhr nach einem zustimmenden Kopfnicken fort: »Dort oben hat man einen Mann aufgefunden, der zuvor angegriffen worden ist. Der Herr Kluftinger versucht nun herauszufinden, was der Mann am See gesucht haben könnte. Und da würde ihm deine Geschichte eben sehr weiterhelfen.«
»Warum redest du eigentlich mit mir, wie wenn ich ein Depp wär?«
Steinle lief knallrot an. In normaler Sprechgeschwindigkeit antwortete er: »Hab ich doch gar nicht. Herrgott bist du empfindlich. Ich hab endlich jemanden dabei, der an deiner Geschichte interessiert ist, und du maulst nur rum. Was soll denn der Herr Kommissar von dir denken? Glaub mir halt!«
Noch immer misstrauisch, aber mit einem hoffnungsvollen Blitzen in den Augen sah Bartenschlager nun zu Kluftinger, der sich dem Tisch näherte. Er streckte Martl seine Hand hin. Sein »Grüß Gott, Herr
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