Seeherzen (German Edition)
entsetzt Aran mit dem Vorhängeschloss in der Hand vor der Tür zum Lagerraum gestanden hatte, während wir alle darauf starrten. Doch es war ja nicht das Schloss, das die Häute in dem Lagerraum gefangen hielt, sondern das, was überhaupt erst dazu geführt hatte, sie dort aufzuhängen und einzuschließen: Die Übereinkunft der ganzen Insel.
Lasst uns den rechtmäßigen Eigentümerinnen ihre Pelze abnehmen – mit Gewalt oder Trickserei
, hatten Rollrocks Männer einst beschlossen,
und dafür sorgen, dass sie nie wieder zueinanderfinden
. Sie mochten geglaubt haben, sich damit ihr eigenes Glück zu sichern, aber ebenso gut hätten sie schwören können:
Lasst uns alle gemeinsam unglücklich werden – Dads, Mums und Jungen – bis ans Ende unserer Tage!
Und
alle
Männer hatten zugestimmt, selbst ein so gutmütiger Mann wie mein eigener Vater. Wie konnte ein einzelner Junge angesichts so vieler erwachsener Männer und dem, was sie wollten, überhaupt darauf hoffen, seiner armen Mum und seinem armen Dad Trost spenden zu können – oder sie sogar glücklich zu machen?
Aus dem schwarzen Gewirr auf dem Kissen kam ein weiterer Seufzer, dann Mums Stimme: «Na ja, vielleicht eine Tasse Tee.»
Ich wusste, dass sie keinen Tee wollte, dass sie mich nur darum bat, damit ich mich nützlich fühlte. Trotzdem erhob ich mich vom Stuhl, um ihr den Gefallen zu tun, bereitwillig wie eh und je. Doch als ich zu ihr sagte: «Ich hole dir eine Tasse», tat ich es mit meiner eigenen Stimme, die weder gezwungen noch süßlich klang.
* * *
Am nächsten Tag nach der Schule, als alle Boote ausgelaufen waren, beschloss ich, nicht direkt nach Hause zu gehen, wo mich die Traurigkeit meiner Mum einen weiteren Nachmittag über bedrücken würde, weil kein Dad da war, den sie umsorgen konnte und für den sie ein fröhliches Gesicht aufgesetzt hätte. Stattdessen schlenderte ich zum Ufer hinunter. Die Sonne ließ sich so gut wie gar nicht blicken, und es wehte ein scharfer Wind, der mich immer wieder aus dem Gleichgewicht brachte. Auf dem Weg begegnete ich fast keiner Menschenseele, und die wenigen Leute, die ich traf, hasteten von einem Unterstand zum nächsten. Mein Dorf hatte sich in einen reizlosen, düsteren Ort verwandelt, und Aggies Tod warf einen Schatten darüber wie tiefhängende Wolken oder wie Nebel, der vom Meer heranzieht und sich durch die Straßen schiebt.
Ich erreichte den Strand am Hafen und lehnte mich ans Ufergeländer, blickte auf die weit entfernten grauen Wassermassen. Sie schienen sich bis über meinen Kopf zu türmen, aber aus irgendeinem wundersamen Grund kamen sie nicht auf mich zugerollt, um über mir zusammenzuschlagen. Weiter vorn warf sich das Wasser auf die Steine, als wäre es wütend auf sie, und es fiel mir schwer, nicht wieder Aggies weißen Körper vor mir liegen zu sehen, ihren schwarzen Pelz, der ganz in ihrer Nähe ans Ufer gespült worden war.
Jetzt muss sie nicht mehr leiden
, hatte eine der Mums aus unserer Gruppe gesagt, als hätte es auf dieser Insel nichts für Aggie gegeben, keinen Mann, der sie liebte, keine Söhne, die sie brauchten, keine prächtigen Vögel, kein gemeinsames Lachen mit ihren Schwestern, nichts, was den Schmerz darüber, nicht im Meer leben zu können, hätte aufwiegen können.
Vom Wind bekam ich Ohrenschmerzen, deshalb drehte ich ihm das Gesicht zu und stapfte an der Nordmole vorbei, dorthin, wo sich die wirklich weite See erstreckt, wo der richtige Sandstrand beginnt und der Wind den Dünen hinter dem aufgepeitschten Wasser die feinen Härchen aus der Stirn pustet. Irgendwo dazwischen verbarg sich das Hexenhaus, in dem Misskaella und die fast ebenso furchterregende Trudle wohnten – und Trudles ungestüme Töchter, die beide nicht zur Schule gingen und auch von niemandem dazu gezwungen wurden. Beim Gedanken an die wilde Truppe in der merkwürdigen Hütte überfiel mich ein Schauder.
Sie
könnten all unserem Leiden ein Ende bereiten, diese Hexen. Sie könnten sich einfach weigern, Frauen aus dem Meer zu holen. Sie könnten die Männer so einschüchtern, dass sie den Lagerraum mit den Pelzen aufschließen würden. Vielleicht könnten sie sie sogar irgendwie verhexen? Ich wusste so gut wie gar nicht, wozu sie imstande waren. Doch wenn jemand etwas daran ändern konnte, wie auf Rollrock Ehen geschlossen wurden, dann diese beiden Frauen.
Nur: Warum sollten sie? Schließlich profitierten sie ja davon, von all dem Geld, das sie für das Frauenherausholen und Deckenhäkeln
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