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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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riesigen sonnenbeschienenen Welle wie der Schatten eines fliegenden Falken. Aggies Gesicht tauchte auf, ihr Mund, ihr Arm, ihre Brust, dann brach eine Welle über ihr zusammen und wickelte sie ins Meer ein. Obwohl er vor Gram fast den Verstand verlor, sprang Bannister nicht hinein. Er stand nun mit eingeknickten Beinen ein Stück vom Molenende entfernt, die klauenartigen roten Hände auf die Knie gestützt, und beschwor Aggie brüllend, nicht zu sterben.
    Sie gehorchte ihm nicht. Als wir sie das nächste Mal zu Gesicht bekamen, trieb sie zusammengesackt auf der Wasseroberfläche; nur ihr Rücken war zu sehen, das Wasser schob ihr schwarzes Haar darüber. Die Sonne verschwand. Einige der Mums weinten auf ihre stille Art, es war kaum mehr zu hören als ein tiefer Atemzug und ein Schniefen dann und wann. Alle starrten wortlos und ohne zu blinzeln zu Aggie hinüber – Männer, Mums und wir Jungen.
    Das Meer spülte Aggie zwischen die beiden Molen zurück. Durch den grauen Regen und die gekräuselten Reihen des grün-grauen Wassers schob es sie langsam schaukelnd Richtung Ufer. Die Mums zogen einige der kleineren Jungen mit sich fort –
Komm, Dav
.
Komm, Phillip
. Wir standen am Ufergeländer, unfähig, den Blick auch nur einen Moment von der toten Frau zu lösen, die auf uns zugeschwemmt wurde.
    «Wie ruhig sie jetzt aussieht», flüsterte ein Mann. «Jetzt kämpft sie nicht mehr.»
    «Jetzt muss sie nicht mehr leiden», sagte eine Frau.
    «Ist ja schön für sie», grollte einer der Ehemänner. «Aber was ist mit ihren Kindern?» Die Frage traf mich wie ein Faustschlag. Ja, wie konnte sie nur so grausam sein? Wie konnte sie nur so schrecklich
traurig
gewesen sein, dass sie so grausam sein konnte?
    «Und guckt euch mal Bannister an.» Der Mann saß völlig in sich zusammengesackt auf den Steinen an der Mole – wir konnten ihn von hier aus zittern sehen. Mehrere Mums gingen zögernd auf ihn zu, blieben zwischendurch stehen, um klagend die Arme gen Himmel zu recken oder sich gegenseitig in den Arm zu nehmen.
    «Hätten sie das kleine Mädchen doch bloß behalten können», seufzte eine Mum.
    «Es bringt nichts, so zu denken», sagte Trotter Trumbell. «Wir mussten alle schon Töchter aufgeben; so ist es nun mal.»
    «Und es ist ja nun nicht so, dass die kleinen Mädchen
tot
wären», stimmte Martin Dashwell zu.
    Einige Mums senkten den Blick und zogen sich die Tücher weiter ins Gesicht. Andere sahen zum Meer und zu Aggie hinüber; sie waren erschöpft, hatten keine frischen Tränen mehr. Mrs. Cawdron bemerkte, wie besorgt ich die Frauen ansah; sie schenkte mir ein angedeutetes Lächeln, warmherzig und traurig zugleich, den Kopf zur Seite geneigt.
    «Sie hätte sich auch
mit
dem Mädchen elend gefühlt», sagte Garvis Marten unverblümt, und wir alle wichen ein Stück vor ihm zurück. «Sie sind doch alle von Natur aus so. Und es wird auch nicht dadurch besser, dass sich die Jungs reinschleichen, wo sie nichts zu suchen haben, und beim Nachhausekommen riechen wie –»
    «Genug jetzt, Marten», wies Trotter ihn scharf zurecht. «Es ist keinem damit geholfen, sich schon wieder darüber auszulassen.»
    Die Wellen trieben Aggie fast genau dorthin zurück, wo sie ins Wasser gegangen war, und keine drei Meter von der Stelle entfernt, an die der Robbenpelz angespült worden war. Die Männer liefen überall am Strand herum, die Kiesel knirschten und kratzten unter ihren Füßen, als nage ein Hund an einem Knochen.
    Die Mums lösten sich paar- und grüppchenweise aus unserer Ansammlung und gingen am Ufer entlang; auch diejenigen, die versucht hatten, Aggie einzuholen und aufzuhalten, gesellten sich jetzt zu ihnen; drei Frauen redeten am Ende der Mole auf den gebrochenen Bannister ein, er solle mit ihnen kommen. Jemand hatte sich auf die Suche nach Misskaella gemacht, und sie kam gerade ganz hinten vom Strand herbeigeeilt, hielt eine ihrer Decken im Arm, deren Zipfel herabbaumelten. Jetzt standen nur noch wir Jungen am Ufergeländer.
    «Er ist selbst schuld», bemerkte James Starr abfällig, «so ’n Drama, wie er um die Tochter gemacht hat. Timmy hat erzählt, Bannister hätte beim Abendessen jedes Mal losgeflennt und vor sich hin gejammert. So benimmt ein Mann sich nicht.»
    «Sie sind
alle
schuld», sagte Raditchs großer Bruder Edward wütend und trat gegen einen Geländerpfosten. «Schließlich haben sie unsere Mums überhaupt erst aus dem Meer geklaut.»
    «Das kannste ihnen aber nicht verübeln», meldete sich der

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