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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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führen.
    Nachmittags kehrte ich nach einem Abstecher in Wholemans Pub heim und hatte den ersten Teil meiner Mission bereits erfüllt. Dad war noch eine Weile mit Pfeife und Freunden dort geblieben, um mit den Männern jenen langweiligen Altherrenplausch zu halten, den ich nicht ausstehen konnte, an dem die Dads aber offenbar ihre Freude hatten.
    Ich betrat unser Haus und durchbrach die seetanggeschwängerte Stille darin. Ich summte ein paar Takte einer einfachen Melodie, die Jerrolt Harding im Schankraum gepfiffen hatte.
    Ich ging zu Mum. Wie eine dunkle Düne lag sie dort. Doch sie war wach, ihr Atem durchzogen von Gedanken und Pausen.
    Es war nicht besonders hell; sie hatte die Vorhänge immer noch zugezogen. Ich setzte mich neben den Rand ihres Kopfkissens, neben ihr tränensalziges Haar. In einem Schüsselchen auf dem Kissen dahinter lag ein ausgelöffeltes Seeherz, das schon ranzig wurde. Der Löffel war so sauber abgeleckt wie frisch poliert.
    «Mum», sagte ich – weder kindlich noch aufgesetzt fröhlich, «ich habe Neuigkeiten für dich.»
    Sie verkroch sich noch ein wenig tiefer in ihre Decke.
    «Dein Sohn», verkündete ich, «hat sich eine Arbeit als Flaschenwäscher in Wholemans Küche besorgt.»
    Sie war mir schon vorher reglos erschienen, doch nun lauschte sie gebannt; nicht ein einziger Seetangfaden bewegte sich.
    «Mr. Wholeman sagt, ich bin ein guter Junge. Er sagt, er kann mir vertrauen.»
    Die Düne erbebte, und Mums weißes Gesicht kam daraus hervorgerollt. «Hat er dich wegen der Sache mit den Pelzen letzten Winter ins Gebet genommen?», fragte sie.
    «Du weißt davon?» Welcher der Jungs hatte den Mums die Geschichte erzählt? «Er hat’s angesprochen», sagte ich. «Ich hab ihm versichert, dass ich den Raum immer mit dem nötigen Respekt behandeln werde.»
    Sie kroch zu mir herüber. Eine mächtige Woge ihrer Wärme und des angewärmten Seetangs drang unter der Decke hervor. Mir fiel wieder ein, wie ich diesen Meergeruch an mir selbst wahrgenommen hatte, in der Kammer mit den Pelzen. Vielleicht hatte gar keiner der Jungen etwas ausgeplappert; vielleicht hatten die Mums einfach an uns allen gerochen, was wir getan hatten.
    «Hast du einen Plan, Daniel?», flüsterte sie. «Heckst du was aus?»
    «Das tue ich», sagte ich. Es verschlug mir den Atem, sie so nah, so wach, so aufmerksam zu sehen. Die Hoffnung, die ich in ihr geweckt hatte, jagte mir Angst ein. «Aber ich weiß noch nichts Genaues. Ich muss erst eine Weile da arbeiten und ihnen zeigen, dass sie mir vertrauen können, und beobachten, wie und wann dort was gemacht wird. Dann schmiede ich weitere Pläne.»
    Sie nickte. «Wo ist dein Dad?», zischte sie.
    «Noch oben im Pub», sagte ich.
    Mum stützte sich schwankend auf Hände und Knie. Obwohl sich der leichte Lichteinfall des Fensters in ihren Augen spiegelte, waren sie trüb, schwebten wie Höhlen in ihrem blassen Gesicht. Trotzdem strömte ein Schwall Aufmerksamkeit aus ihrem Blick auf mich zu.
    «Ich weiß, ich muss dir das eigentlich nicht sagen», sagte sie gedämpft und fügte mit fast ersticktem Flüstern hinzu: «Aber du darfst niemandem ein Wort davon verraten.»
    «Niemandem», sagte ich mit beruhigender Ernsthaftigkeit. «Mach dir keine Sorgen. Ich verrat’s nicht mal mir
selbst

    Plötzlich begann sie zu lachen, schubste mich wie früher bei unseren Spaßkämpfen aufs Bett und drückte mir dabei fast die Luft ab. Sie war immer noch die Stärkere, aber ich war immerhin schon alt genug, um als Flaschenwäscher zu arbeiten, und mir wurde klar, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft eine echte Chance gegen sie haben würde. Eine Weile bestand alles um uns herum nur noch aus Dunkelheit, Anspannung und Kampf, unterdrücktem Lachen und Drohungen. «Du kannst mich nicht festhalten!» – «Und ob ich das kann!» – «Schwächling!» – «Landratte!»
    Sie drückte mich nieder, dann ließ sie mich los, sprang wieder in die Hocke, und damit war der Kampf beendet. «Sie werden dich bestrafen, Daniel», sagte sie. «Nicht weil du mich befreist, sondern weil du den anderen Jungs zeigst, dass es möglich ist.»
    «Das ist mir egal», schnaufte ich. «Bis dahin bist du längst zu Hause.»
    «Dummer Junge», sagte sie liebevoll, und ihre dünne Hand kam durch die Dunkelheit hindurch auf mich zu, strich mir die Haare hinter die Ohren, fuhr mir kitzelnd den Hals hinunter und übers Schlüsselbein. Dann versetzte sie mir zwei leichte Klapse auf die Wange. «Lass mich drüber

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